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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Sonnenschirm trug, daß sie vor das Thor gehen
werde.

Er zog sich auch an, und gieng vor das nächste
beste Thor, weil er nicht wuste, wo sie hingegan-
gen war. Es war schon ein völliger Frühlingstag,
die Sonne schien warm, alle Kräuter und Früh-
lingsblumen keimten schon hervor; die Lerchen san-
gen in der Luft, und die Aemmerlinge, Zaunköni-
ge und andre Vögel im Gebüsch. Seine Seele
schwang sich mit den Lerchen auf, und freute sich
der reinen aufgehellten Luft. Freude und Weh-
muth gränzten aneinander; er war bewegt, daß
sein Aug in Thränen glänzte. Er sehnte sich nach
Marianen, aber sie war nirgends. Von fern sah
er ein Frauenzimmer gehn; sein Herz klopfte; er
eilte, um sie einzuholen; aber es war nicht sein En-
gel, und er ward noch wehmüthiger. An einer
etwas erhöhten Stelle, die von einer Dornhecke
geschützt war, fand er endlich blaue Veilchen. Er
schrie laut auf, als er sie sah, pflückte, und band
sie mit einem Grashalm in ein Sträuschen. Hätt'
euch Mariane! sagte er halb laut; möchtet ihr
an ihrem Busen blühn! -- O Kronhelm, wärst
doch du da! Aber du bist glücklich, und ich kann



Sonnenſchirm trug, daß ſie vor das Thor gehen
werde.

Er zog ſich auch an, und gieng vor das naͤchſte
beſte Thor, weil er nicht wuſte, wo ſie hingegan-
gen war. Es war ſchon ein voͤlliger Fruͤhlingstag,
die Sonne ſchien warm, alle Kraͤuter und Fruͤh-
lingsblumen keimten ſchon hervor; die Lerchen ſan-
gen in der Luft, und die Aemmerlinge, Zaunkoͤni-
ge und andre Voͤgel im Gebuͤſch. Seine Seele
ſchwang ſich mit den Lerchen auf, und freute ſich
der reinen aufgehellten Luft. Freude und Weh-
muth graͤnzten aneinander; er war bewegt, daß
ſein Aug in Thraͤnen glaͤnzte. Er ſehnte ſich nach
Marianen, aber ſie war nirgends. Von fern ſah
er ein Frauenzimmer gehn; ſein Herz klopfte; er
eilte, um ſie einzuholen; aber es war nicht ſein En-
gel, und er ward noch wehmuͤthiger. An einer
etwas erhoͤhten Stelle, die von einer Dornhecke
geſchuͤtzt war, fand er endlich blaue Veilchen. Er
ſchrie laut auf, als er ſie ſah, pfluͤckte, und band
ſie mit einem Grashalm in ein Straͤuschen. Haͤtt’
euch Mariane! ſagte er halb laut; moͤchtet ihr
an ihrem Buſen bluͤhn! — O Kronhelm, waͤrſt
doch du da! Aber du biſt gluͤcklich, und ich kann

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[762/0342] Sonnenſchirm trug, daß ſie vor das Thor gehen werde. Er zog ſich auch an, und gieng vor das naͤchſte beſte Thor, weil er nicht wuſte, wo ſie hingegan- gen war. Es war ſchon ein voͤlliger Fruͤhlingstag, die Sonne ſchien warm, alle Kraͤuter und Fruͤh- lingsblumen keimten ſchon hervor; die Lerchen ſan- gen in der Luft, und die Aemmerlinge, Zaunkoͤni- ge und andre Voͤgel im Gebuͤſch. Seine Seele ſchwang ſich mit den Lerchen auf, und freute ſich der reinen aufgehellten Luft. Freude und Weh- muth graͤnzten aneinander; er war bewegt, daß ſein Aug in Thraͤnen glaͤnzte. Er ſehnte ſich nach Marianen, aber ſie war nirgends. Von fern ſah er ein Frauenzimmer gehn; ſein Herz klopfte; er eilte, um ſie einzuholen; aber es war nicht ſein En- gel, und er ward noch wehmuͤthiger. An einer etwas erhoͤhten Stelle, die von einer Dornhecke geſchuͤtzt war, fand er endlich blaue Veilchen. Er ſchrie laut auf, als er ſie ſah, pfluͤckte, und band ſie mit einem Grashalm in ein Straͤuschen. Haͤtt’ euch Mariane! ſagte er halb laut; moͤchtet ihr an ihrem Buſen bluͤhn! — O Kronhelm, waͤrſt doch du da! Aber du biſt gluͤcklich, und ich kann

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 762. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/342>, abgerufen am 29.03.2024.