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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Nach einer Viertelstunde kam sein Engel. Ver-
zeihn Sie! war ihr erstes Wort. Jch vermuthe-
te Sie hier, aber ich konnte mich nicht losreissen.
Jst er glücklich fortgekommen? -- Tausend Grüsse,
sagte er; der Abschied war unendlich schmerzlich für
uns beyde. Ach, ich glaub es; versetzte sie, und
seufzte. Nach einigen Erzählungen ging der Hof-
rath auf sein Zimmer, weil er Geschäfte hatte.
Siegwart sank in Marianens Arm, und weinte.
Eine Stunde lang konnte er nichts, als seufzen.
Sein Mund hing fest am ihrigen, und Thränen
mischten sich in ihre Küsse. Verzeihn Sie, Theu-
re! sagte er, ich kann heut nicht sprechen. Gott
weis, wie mir zu Muth ist! Hätt' ich Sie nicht,
ich verginge. -- Sie streichelte ihm die Thränen
von den Wangen, oder küßte sie weg. Nach einer
halben Stunde hörten sie ein Geräusch. Mariane
sprang ans Klavier und spielte eine Phantasie. Es
kam niemand auf das Geräusch. Sie spielte eine
traurige Opernarie von Hasse. Es war ein Ab-
schiedslied. Das Wort: Adio! war drinn ausser-
ordentlich ausgedrückt. Sie hatte ausgespielt, und
sah ihn an. Er wollte eben an ihr Herz sinken,
als der Hofrath wieder ins Zimmer kam. Nach



Nach einer Viertelſtunde kam ſein Engel. Ver-
zeihn Sie! war ihr erſtes Wort. Jch vermuthe-
te Sie hier, aber ich konnte mich nicht losreiſſen.
Jſt er gluͤcklich fortgekommen? — Tauſend Gruͤſſe,
ſagte er; der Abſchied war unendlich ſchmerzlich fuͤr
uns beyde. Ach, ich glaub es; verſetzte ſie, und
ſeufzte. Nach einigen Erzaͤhlungen ging der Hof-
rath auf ſein Zimmer, weil er Geſchaͤfte hatte.
Siegwart ſank in Marianens Arm, und weinte.
Eine Stunde lang konnte er nichts, als ſeufzen.
Sein Mund hing feſt am ihrigen, und Thraͤnen
miſchten ſich in ihre Kuͤſſe. Verzeihn Sie, Theu-
re! ſagte er, ich kann heut nicht ſprechen. Gott
weis, wie mir zu Muth iſt! Haͤtt’ ich Sie nicht,
ich verginge. — Sie ſtreichelte ihm die Thraͤnen
von den Wangen, oder kuͤßte ſie weg. Nach einer
halben Stunde hoͤrten ſie ein Geraͤuſch. Mariane
ſprang ans Klavier und ſpielte eine Phantaſie. Es
kam niemand auf das Geraͤuſch. Sie ſpielte eine
traurige Opernarie von Haſſe. Es war ein Ab-
ſchiedslied. Das Wort: Adio! war drinn auſſer-
ordentlich ausgedruͤckt. Sie hatte ausgeſpielt, und
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[754/0334] Nach einer Viertelſtunde kam ſein Engel. Ver- zeihn Sie! war ihr erſtes Wort. Jch vermuthe- te Sie hier, aber ich konnte mich nicht losreiſſen. Jſt er gluͤcklich fortgekommen? — Tauſend Gruͤſſe, ſagte er; der Abſchied war unendlich ſchmerzlich fuͤr uns beyde. Ach, ich glaub es; verſetzte ſie, und ſeufzte. Nach einigen Erzaͤhlungen ging der Hof- rath auf ſein Zimmer, weil er Geſchaͤfte hatte. Siegwart ſank in Marianens Arm, und weinte. Eine Stunde lang konnte er nichts, als ſeufzen. Sein Mund hing feſt am ihrigen, und Thraͤnen miſchten ſich in ihre Kuͤſſe. Verzeihn Sie, Theu- re! ſagte er, ich kann heut nicht ſprechen. Gott weis, wie mir zu Muth iſt! Haͤtt’ ich Sie nicht, ich verginge. — Sie ſtreichelte ihm die Thraͤnen von den Wangen, oder kuͤßte ſie weg. Nach einer halben Stunde hoͤrten ſie ein Geraͤuſch. Mariane ſprang ans Klavier und ſpielte eine Phantaſie. Es kam niemand auf das Geraͤuſch. Sie ſpielte eine traurige Opernarie von Haſſe. Es war ein Ab- ſchiedslied. Das Wort: Adio! war drinn auſſer- ordentlich ausgedruͤckt. Sie hatte ausgeſpielt, und ſah ihn an. Er wollte eben an ihr Herz ſinken, als der Hofrath wieder ins Zimmer kam. Nach

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 754. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/334>, abgerufen am 29.03.2024.