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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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wurde das wehmüthige Miserere von Allegri an-
gestimmt. Das Gemurmel schwieg; alle Gesichter
wendeten sich nach dem Chor hin, und glänzten im
Schein der Wachslichter. Jede Brust war von
Bangigkeit beklommen. Aus allen Mienen sprach
allgemeine Wehmuth. Die Jnstrumente klangen
dumpf wie aus dem Grab. Die tiefe Demuth und
die Traurigkeit der Singstimmen ergoß sich in jedes
Herz. Ein allgemeines Sehnen nach Erbarmung
athmete aus jeder Brust. Jn Siegwarts Seele
wars wie das Sehnen nach der Auferstehung. Er
weinte, denn er dachte sich die Liebe Christi, die für
uns gestorben ist, dachte alle die unabsehlichen Fol-
gen dieses Todes, die in alle Ewigkeit fortströmen;
sah seinen Heiland am Kreuze hangen, und mit Hei-
terkeit hinab ins Grab blicken; sah die Augen aller
auf ihn gerichtet, die im Elend schmachten; sah
die Dunkelheit der Gräber, und das ängstliche Har-
ren der Kreatur nach der Erlösung und der Aufer-
stehung; sah auch seine Mariane mit schon halbge-
brochnen Augen zu ihm aufblicken. Seine Seele
bat zu ihm für sie, für sich, und alle Menschen. Laß
sie Alle Eins werden! dacht' er, mach sie Alle
selig! -- Zum Schluß ward noch ein herrliches



wurde das wehmuͤthige Miſerere von Allegri an-
geſtimmt. Das Gemurmel ſchwieg; alle Geſichter
wendeten ſich nach dem Chor hin, und glaͤnzten im
Schein der Wachslichter. Jede Bruſt war von
Bangigkeit beklommen. Aus allen Mienen ſprach
allgemeine Wehmuth. Die Jnſtrumente klangen
dumpf wie aus dem Grab. Die tiefe Demuth und
die Traurigkeit der Singſtimmen ergoß ſich in jedes
Herz. Ein allgemeines Sehnen nach Erbarmung
athmete aus jeder Bruſt. Jn Siegwarts Seele
wars wie das Sehnen nach der Auferſtehung. Er
weinte, denn er dachte ſich die Liebe Chriſti, die fuͤr
uns geſtorben iſt, dachte alle die unabſehlichen Fol-
gen dieſes Todes, die in alle Ewigkeit fortſtroͤmen;
ſah ſeinen Heiland am Kreuze hangen, und mit Hei-
terkeit hinab ins Grab blicken; ſah die Augen aller
auf ihn gerichtet, die im Elend ſchmachten; ſah
die Dunkelheit der Graͤber, und das aͤngſtliche Har-
ren der Kreatur nach der Erloͤſung und der Aufer-
ſtehung; ſah auch ſeine Mariane mit ſchon halbge-
brochnen Augen zu ihm aufblicken. Seine Seele
bat zu ihm fuͤr ſie, fuͤr ſich, und alle Menſchen. Laß
ſie Alle Eins werden! dacht’ er, mach ſie Alle
ſelig! — Zum Schluß ward noch ein herrliches

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[738/0318] wurde das wehmuͤthige Miſerere von Allegri an- geſtimmt. Das Gemurmel ſchwieg; alle Geſichter wendeten ſich nach dem Chor hin, und glaͤnzten im Schein der Wachslichter. Jede Bruſt war von Bangigkeit beklommen. Aus allen Mienen ſprach allgemeine Wehmuth. Die Jnſtrumente klangen dumpf wie aus dem Grab. Die tiefe Demuth und die Traurigkeit der Singſtimmen ergoß ſich in jedes Herz. Ein allgemeines Sehnen nach Erbarmung athmete aus jeder Bruſt. Jn Siegwarts Seele wars wie das Sehnen nach der Auferſtehung. Er weinte, denn er dachte ſich die Liebe Chriſti, die fuͤr uns geſtorben iſt, dachte alle die unabſehlichen Fol- gen dieſes Todes, die in alle Ewigkeit fortſtroͤmen; ſah ſeinen Heiland am Kreuze hangen, und mit Hei- terkeit hinab ins Grab blicken; ſah die Augen aller auf ihn gerichtet, die im Elend ſchmachten; ſah die Dunkelheit der Graͤber, und das aͤngſtliche Har- ren der Kreatur nach der Erloͤſung und der Aufer- ſtehung; ſah auch ſeine Mariane mit ſchon halbge- brochnen Augen zu ihm aufblicken. Seine Seele bat zu ihm fuͤr ſie, fuͤr ſich, und alle Menſchen. Laß ſie Alle Eins werden! dacht’ er, mach ſie Alle ſelig! — Zum Schluß ward noch ein herrliches

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 738. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/318>, abgerufen am 28.03.2024.