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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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hütte, dachte er, ist mir lieber, wo sein Besitzer
ruhig drinn sitzt, sich nur um sich selbst bekümmert,
von keines andern Hülf' oder Gnade abhängt,
und im Frieden für sich und seine Kinder sein Feld
baut. Am meisten ärgerte er sich über die vielen
Müssiggänger, die, wie Puppen, die Strassen
auf und ab tanzten, denen man den Müssiggang
ansah, und die, um den Müssiggang noch zu ver-
mehren, eben so grosse Müssiggänger, als Bediente,
hinter sich drein gehen haben. Es schmerzte ihn,
so viel Leute in zerlumpten Kleidern, mit ausge-
hungerten Gesichtern, und muthlosen, niederge-
schlagnen Mienen zu sehen, die, von den goldbe-
deckten Herren umbemerkt, wie Gewürm unter den
Füssen des Wanderers herum kriechen. Gott,
dachte er, das sind doch auch Menschen, die auch
Seelen haben, wie die Herren, und sie werden
nicht geachtet! Gibts denn keine Größe, und kein
Glück, wenn ihm nicht Niedrigkeit und Elend zur
Seite steht? Hier vergißt man ja sich selber vor
dem ewigen Gelärm der Kutschen, und den stillen
rechtschaffenen Bürger muß man auch vergessen.
Leute mit den frechsten Gesichtern und dem aufge-
blasensten Wesen sah er zwischen andern, und be-
sonders alten Mütterchen sich brüsten, die mit der



huͤtte, dachte er, iſt mir lieber, wo ſein Beſitzer
ruhig drinn ſitzt, ſich nur um ſich ſelbſt bekuͤmmert,
von keines andern Huͤlf’ oder Gnade abhaͤngt,
und im Frieden fuͤr ſich und ſeine Kinder ſein Feld
baut. Am meiſten aͤrgerte er ſich uͤber die vielen
Muͤſſiggaͤnger, die, wie Puppen, die Straſſen
auf und ab tanzten, denen man den Muͤſſiggang
anſah, und die, um den Muͤſſiggang noch zu ver-
mehren, eben ſo groſſe Muͤſſiggaͤnger, als Bediente,
hinter ſich drein gehen haben. Es ſchmerzte ihn,
ſo viel Leute in zerlumpten Kleidern, mit ausge-
hungerten Geſichtern, und muthloſen, niederge-
ſchlagnen Mienen zu ſehen, die, von den goldbe-
deckten Herren umbemerkt, wie Gewuͤrm unter den
Fuͤſſen des Wanderers herum kriechen. Gott,
dachte er, das ſind doch auch Menſchen, die auch
Seelen haben, wie die Herren, und ſie werden
nicht geachtet! Gibts denn keine Groͤße, und kein
Gluͤck, wenn ihm nicht Niedrigkeit und Elend zur
Seite ſteht? Hier vergißt man ja ſich ſelber vor
dem ewigen Gelaͤrm der Kutſchen, und den ſtillen
rechtſchaffenen Buͤrger muß man auch vergeſſen.
Leute mit den frechſten Geſichtern und dem aufge-
blaſenſten Weſen ſah er zwiſchen andern, und be-
ſonders alten Muͤtterchen ſich bruͤſten, die mit der

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[722/0302] huͤtte, dachte er, iſt mir lieber, wo ſein Beſitzer ruhig drinn ſitzt, ſich nur um ſich ſelbſt bekuͤmmert, von keines andern Huͤlf’ oder Gnade abhaͤngt, und im Frieden fuͤr ſich und ſeine Kinder ſein Feld baut. Am meiſten aͤrgerte er ſich uͤber die vielen Muͤſſiggaͤnger, die, wie Puppen, die Straſſen auf und ab tanzten, denen man den Muͤſſiggang anſah, und die, um den Muͤſſiggang noch zu ver- mehren, eben ſo groſſe Muͤſſiggaͤnger, als Bediente, hinter ſich drein gehen haben. Es ſchmerzte ihn, ſo viel Leute in zerlumpten Kleidern, mit ausge- hungerten Geſichtern, und muthloſen, niederge- ſchlagnen Mienen zu ſehen, die, von den goldbe- deckten Herren umbemerkt, wie Gewuͤrm unter den Fuͤſſen des Wanderers herum kriechen. Gott, dachte er, das ſind doch auch Menſchen, die auch Seelen haben, wie die Herren, und ſie werden nicht geachtet! Gibts denn keine Groͤße, und kein Gluͤck, wenn ihm nicht Niedrigkeit und Elend zur Seite ſteht? Hier vergißt man ja ſich ſelber vor dem ewigen Gelaͤrm der Kutſchen, und den ſtillen rechtſchaffenen Buͤrger muß man auch vergeſſen. Leute mit den frechſten Geſichtern und dem aufge- blaſenſten Weſen ſah er zwiſchen andern, und be- ſonders alten Muͤtterchen ſich bruͤſten, die mit der

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 722. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/302>, abgerufen am 28.03.2024.