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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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grausam begegnet, hab ihm täglich vorgeworfen:
Er esse Gnadenbrod, sey der Welt nichts mehr
nütz, und dürfe wol machen, daß er bald draus
fort komme. Diesen Morgen noch hab er ihn einen
alten Narren gescholten, ihm gedroht, er woll ihn
noch aus dem Hause stoßen, und drauf habe der
alte Mann geweint, und gesagt: Gott soll unter
uns richten! Hab sein altes zerrissenes Wamms
angezogen, sey an seinem Stab aus dem Dorf
gegangen, und habe sich am Bach niedergesetzt.
Jch hab ihn selber angetroffen, sagte der Metzger;
er gab mir noch einen guten Morgen, und nahm
die Mütze ab, daß ich seine handvoll weisser Haare
und seine Glatze sah, und bey mir selber dachte:
Lieber Gott, was es doch um einen Alten für ein
Elend ist, wenn sich niemand seiner annimmt, selbst
die Kinder nicht, die er groß gezogen hat! -- Da
hat sich eben der arme Mann hingesetzt, halb kin-
disch war er, wuste sich selbst nicht mehr zu helfen,
und sprang in das Wasser. Gott verzeih es ihm,
er war sonst ein guter Christ, der niemand nichts
zu leid that. Aber so Kerls, wie sein Sohn ist,
ließ' ich spiessen, die verdienen nicht zu leben,
wenn sie Leuten nicht das Leben gönnen, denen sie
doch alles zu verdanken haben. Das ist so meine



grauſam begegnet, hab ihm taͤglich vorgeworfen:
Er eſſe Gnadenbrod, ſey der Welt nichts mehr
nuͤtz, und duͤrfe wol machen, daß er bald draus
fort komme. Dieſen Morgen noch hab er ihn einen
alten Narren geſcholten, ihm gedroht, er woll ihn
noch aus dem Hauſe ſtoßen, und drauf habe der
alte Mann geweint, und geſagt: Gott ſoll unter
uns richten! Hab ſein altes zerriſſenes Wamms
angezogen, ſey an ſeinem Stab aus dem Dorf
gegangen, und habe ſich am Bach niedergeſetzt.
Jch hab ihn ſelber angetroffen, ſagte der Metzger;
er gab mir noch einen guten Morgen, und nahm
die Muͤtze ab, daß ich ſeine handvoll weiſſer Haare
und ſeine Glatze ſah, und bey mir ſelber dachte:
Lieber Gott, was es doch um einen Alten fuͤr ein
Elend iſt, wenn ſich niemand ſeiner annimmt, ſelbſt
die Kinder nicht, die er groß gezogen hat! — Da
hat ſich eben der arme Mann hingeſetzt, halb kin-
diſch war er, wuſte ſich ſelbſt nicht mehr zu helfen,
und ſprang in das Waſſer. Gott verzeih es ihm,
er war ſonſt ein guter Chriſt, der niemand nichts
zu leid that. Aber ſo Kerls, wie ſein Sohn iſt,
ließ’ ich ſpieſſen, die verdienen nicht zu leben,
wenn ſie Leuten nicht das Leben goͤnnen, denen ſie
doch alles zu verdanken haben. Das iſt ſo meine

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[715/0295] grauſam begegnet, hab ihm taͤglich vorgeworfen: Er eſſe Gnadenbrod, ſey der Welt nichts mehr nuͤtz, und duͤrfe wol machen, daß er bald draus fort komme. Dieſen Morgen noch hab er ihn einen alten Narren geſcholten, ihm gedroht, er woll ihn noch aus dem Hauſe ſtoßen, und drauf habe der alte Mann geweint, und geſagt: Gott ſoll unter uns richten! Hab ſein altes zerriſſenes Wamms angezogen, ſey an ſeinem Stab aus dem Dorf gegangen, und habe ſich am Bach niedergeſetzt. Jch hab ihn ſelber angetroffen, ſagte der Metzger; er gab mir noch einen guten Morgen, und nahm die Muͤtze ab, daß ich ſeine handvoll weiſſer Haare und ſeine Glatze ſah, und bey mir ſelber dachte: Lieber Gott, was es doch um einen Alten fuͤr ein Elend iſt, wenn ſich niemand ſeiner annimmt, ſelbſt die Kinder nicht, die er groß gezogen hat! — Da hat ſich eben der arme Mann hingeſetzt, halb kin- diſch war er, wuſte ſich ſelbſt nicht mehr zu helfen, und ſprang in das Waſſer. Gott verzeih es ihm, er war ſonſt ein guter Chriſt, der niemand nichts zu leid that. Aber ſo Kerls, wie ſein Sohn iſt, ließ’ ich ſpieſſen, die verdienen nicht zu leben, wenn ſie Leuten nicht das Leben goͤnnen, denen ſie doch alles zu verdanken haben. Das iſt ſo meine

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 715. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/295>, abgerufen am 19.04.2024.