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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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schmolzen, nur noch an den Rainen, und Hecken,
und in den Gräben lag ein wenig, wo die Son-
ne nicht so frey hin scheinen konnte. Die Wie-
sen waren schon grün, besonders an den Quel-
len; das junge Gras, und die Gänseblümchen
keimten schon hervor. Die Lerchen schwangen sich
das erstemal in diesem Frühjahr in die Luft,
und sangen. Es war, als ob ein himmlisches,
überirdisches Konzert über unsern beyden Jüng-
lingen schwebte. Jhre Seelen erweiterten sich,
und lebten in der frischen Frühlingsluft, die um
sie her spielte, wie neu auf. All ihr Gefühl wur-
de geschärft; jeder dachte an sein Mädchen und
schwieg. Um Mittag kamen sie in ein Dorf, wo
sie ihre Pferde fütterten, und assen. Ein Flei-
scher saß in der Stube mit zwey großen Hunden.
Er erzählte von einer Frau im nächsten Dorf, die
närrisch geworden sey, und nun gebe man ihr
Schuld, sie habe ihren Mann umgebracht. Dann
erzählte er von einem alten Mann von 73 Jah-
ren, den man draussen im Bach todt gefunden
habe. Vermuthlich sey er selbst hineingesprungen,
denn sein Sohn, der nun auf seinem Handwerk
sey, und bey dem der Vater aus Gnad und
Barmherzigkeit gewohnt habe, sey ihm hart und



ſchmolzen, nur noch an den Rainen, und Hecken,
und in den Graͤben lag ein wenig, wo die Son-
ne nicht ſo frey hin ſcheinen konnte. Die Wie-
ſen waren ſchon gruͤn, beſonders an den Quel-
len; das junge Gras, und die Gaͤnſebluͤmchen
keimten ſchon hervor. Die Lerchen ſchwangen ſich
das erſtemal in dieſem Fruͤhjahr in die Luft,
und ſangen. Es war, als ob ein himmliſches,
uͤberirdiſches Konzert uͤber unſern beyden Juͤng-
lingen ſchwebte. Jhre Seelen erweiterten ſich,
und lebten in der friſchen Fruͤhlingsluft, die um
ſie her ſpielte, wie neu auf. All ihr Gefuͤhl wur-
de geſchaͤrft; jeder dachte an ſein Maͤdchen und
ſchwieg. Um Mittag kamen ſie in ein Dorf, wo
ſie ihre Pferde fuͤtterten, und aſſen. Ein Flei-
ſcher ſaß in der Stube mit zwey großen Hunden.
Er erzaͤhlte von einer Frau im naͤchſten Dorf, die
naͤrriſch geworden ſey, und nun gebe man ihr
Schuld, ſie habe ihren Mann umgebracht. Dann
erzaͤhlte er von einem alten Mann von 73 Jah-
ren, den man drauſſen im Bach todt gefunden
habe. Vermuthlich ſey er ſelbſt hineingeſprungen,
denn ſein Sohn, der nun auf ſeinem Handwerk
ſey, und bey dem der Vater aus Gnad und
Barmherzigkeit gewohnt habe, ſey ihm hart und

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[714/0294] ſchmolzen, nur noch an den Rainen, und Hecken, und in den Graͤben lag ein wenig, wo die Son- ne nicht ſo frey hin ſcheinen konnte. Die Wie- ſen waren ſchon gruͤn, beſonders an den Quel- len; das junge Gras, und die Gaͤnſebluͤmchen keimten ſchon hervor. Die Lerchen ſchwangen ſich das erſtemal in dieſem Fruͤhjahr in die Luft, und ſangen. Es war, als ob ein himmliſches, uͤberirdiſches Konzert uͤber unſern beyden Juͤng- lingen ſchwebte. Jhre Seelen erweiterten ſich, und lebten in der friſchen Fruͤhlingsluft, die um ſie her ſpielte, wie neu auf. All ihr Gefuͤhl wur- de geſchaͤrft; jeder dachte an ſein Maͤdchen und ſchwieg. Um Mittag kamen ſie in ein Dorf, wo ſie ihre Pferde fuͤtterten, und aſſen. Ein Flei- ſcher ſaß in der Stube mit zwey großen Hunden. Er erzaͤhlte von einer Frau im naͤchſten Dorf, die naͤrriſch geworden ſey, und nun gebe man ihr Schuld, ſie habe ihren Mann umgebracht. Dann erzaͤhlte er von einem alten Mann von 73 Jah- ren, den man drauſſen im Bach todt gefunden habe. Vermuthlich ſey er ſelbſt hineingeſprungen, denn ſein Sohn, der nun auf ſeinem Handwerk ſey, und bey dem der Vater aus Gnad und Barmherzigkeit gewohnt habe, ſey ihm hart und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 714. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/294>, abgerufen am 20.04.2024.