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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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zu achten schien. Die Jünglinge sprachen viel von
Klopstock, und als sie Siegwarten mit solcher
Wärme von ihm sprechen hörte, bat sie sich den
Messias von ihrem Bruder zum Lesen aus. Jhr
Vater kam, und sie mußte in den Laden hinab.
Der alte Grünbach erkundigte sich mit vielen Um-
ständen bey Siegwart nach dem Befinden seines
Vaters und seiner Familie.

Die Schulstunden wurden nun wieder angefan-
gen, und die beyden Jünglinge beschäftigten sich
mehrentheils mit den Büchern; zumal, da man bey
den unbeständigen und rauhen Herbsttagen wenig
mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm
liebte zwar die Wissenschaften sehr, und brannte
vor Begierde, seine Kenntnisse zu vermehren; aber
der Gedanke an Theresen überraschte ihn alle Au-
genblicke über den Büchern, und dann wars ihm
unmöglich, weiter zu lesen. Er fieng an zu phan-
tasiren, stellte sich ihr Bild ganze Stunden ganz
lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute
Gespräche mit ihr. Sie schrieb ihm, wo nicht alle
8 Tage, doch wenigstens alle 14 Tage gewiß. Sie
wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge-
nauer mit einander verbunden. Sie liessen ihre
Seele in den Briefen reden; sagten sich ihre in-



zu achten ſchien. Die Juͤnglinge ſprachen viel von
Klopſtock, und als ſie Siegwarten mit ſolcher
Waͤrme von ihm ſprechen hoͤrte, bat ſie ſich den
Meſſias von ihrem Bruder zum Leſen aus. Jhr
Vater kam, und ſie mußte in den Laden hinab.
Der alte Gruͤnbach erkundigte ſich mit vielen Um-
ſtaͤnden bey Siegwart nach dem Befinden ſeines
Vaters und ſeiner Familie.

Die Schulſtunden wurden nun wieder angefan-
gen, und die beyden Juͤnglinge beſchaͤftigten ſich
mehrentheils mit den Buͤchern; zumal, da man bey
den unbeſtaͤndigen und rauhen Herbſttagen wenig
mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm
liebte zwar die Wiſſenſchaften ſehr, und brannte
vor Begierde, ſeine Kenntniſſe zu vermehren; aber
der Gedanke an Thereſen uͤberraſchte ihn alle Au-
genblicke uͤber den Buͤchern, und dann wars ihm
unmoͤglich, weiter zu leſen. Er fieng an zu phan-
taſiren, ſtellte ſich ihr Bild ganze Stunden ganz
lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute
Geſpraͤche mit ihr. Sie ſchrieb ihm, wo nicht alle
8 Tage, doch wenigſtens alle 14 Tage gewiß. Sie
wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge-
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[446/0026] zu achten ſchien. Die Juͤnglinge ſprachen viel von Klopſtock, und als ſie Siegwarten mit ſolcher Waͤrme von ihm ſprechen hoͤrte, bat ſie ſich den Meſſias von ihrem Bruder zum Leſen aus. Jhr Vater kam, und ſie mußte in den Laden hinab. Der alte Gruͤnbach erkundigte ſich mit vielen Um- ſtaͤnden bey Siegwart nach dem Befinden ſeines Vaters und ſeiner Familie. Die Schulſtunden wurden nun wieder angefan- gen, und die beyden Juͤnglinge beſchaͤftigten ſich mehrentheils mit den Buͤchern; zumal, da man bey den unbeſtaͤndigen und rauhen Herbſttagen wenig mehr aufs freye Feld hinaus konnte. Kronhelm liebte zwar die Wiſſenſchaften ſehr, und brannte vor Begierde, ſeine Kenntniſſe zu vermehren; aber der Gedanke an Thereſen uͤberraſchte ihn alle Au- genblicke uͤber den Buͤchern, und dann wars ihm unmoͤglich, weiter zu leſen. Er fieng an zu phan- taſiren, ſtellte ſich ihr Bild ganze Stunden ganz lebendig vor, und hielt, wenn er allein war, laute Geſpraͤche mit ihr. Sie ſchrieb ihm, wo nicht alle 8 Tage, doch wenigſtens alle 14 Tage gewiß. Sie wurden, auch in der Entfernung, immer noch ge- nauer mit einander verbunden. Sie lieſſen ihre Seele in den Briefen reden; ſagten ſich ihre in-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/26>, abgerufen am 24.04.2024.