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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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wieder etwas. Siegwart kam keine Viertelstunde
von seinem Bette. Auf sein Verlangen muste er
ihm die letzten Reden Jesu im Johannes, und Se-
midas Selbstgespräch im vierten Gesang der Mes-
siade vorlesen. Beyde waren sehr gerührt. Der
Kranke hub seine Augen in die Höhe, und sagte:
Segen dem Manne, der die Heiligkeit der Liebe so
tief gefühlt hat! Wohl dem, der, wie er, fühlt!
Dann betete er still zu Gott; rief einigemal laut:
Gnade mir, Erbarmer! und dann weinte er. Seg-
ne Marianen! sprach er leiser. Gib ihr einen
Mann, der fromm und rein liebt!

Den ganzen Tag über lag er matt da; seine
Kräfte nahmen sichtbar ab. Gegen Abend schien
sein Ende nahe. Lieber Siegwart, sagte er: Ver-
sichern Sie meinen Vater meiner Liebe, meines
Danks, und meiner Reue! Sagen Sie ihm, daß
ich Marianen liebte; daß ich durch sie fromm ward,
und nun freudiger zu Gott geh! Jch wollt ihn
durch mein Aussenbleiben nicht betrüben. Eine
innre, unbekannte Kraft hielt mich zurück. Es
war mehr, als Liebe. Jhr zu widerstehen, war
mir unmöglich. Sagen Sie ihm alles, alles! --

Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Noch
einmal, um Gottes willen, lieber Siegwart, be-



wieder etwas. Siegwart kam keine Viertelſtunde
von ſeinem Bette. Auf ſein Verlangen muſte er
ihm die letzten Reden Jeſu im Johannes, und Se-
midas Selbſtgeſpraͤch im vierten Geſang der Meſ-
ſiade vorleſen. Beyde waren ſehr geruͤhrt. Der
Kranke hub ſeine Augen in die Hoͤhe, und ſagte:
Segen dem Manne, der die Heiligkeit der Liebe ſo
tief gefuͤhlt hat! Wohl dem, der, wie er, fuͤhlt!
Dann betete er ſtill zu Gott; rief einigemal laut:
Gnade mir, Erbarmer! und dann weinte er. Seg-
ne Marianen! ſprach er leiſer. Gib ihr einen
Mann, der fromm und rein liebt!

Den ganzen Tag uͤber lag er matt da; ſeine
Kraͤfte nahmen ſichtbar ab. Gegen Abend ſchien
ſein Ende nahe. Lieber Siegwart, ſagte er: Ver-
ſichern Sie meinen Vater meiner Liebe, meines
Danks, und meiner Reue! Sagen Sie ihm, daß
ich Marianen liebte; daß ich durch ſie fromm ward,
und nun freudiger zu Gott geh! Jch wollt ihn
durch mein Auſſenbleiben nicht betruͤben. Eine
innre, unbekannte Kraft hielt mich zuruͤck. Es
war mehr, als Liebe. Jhr zu widerſtehen, war
mir unmoͤglich. Sagen Sie ihm alles, alles! —

Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Noch
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[644/0224] wieder etwas. Siegwart kam keine Viertelſtunde von ſeinem Bette. Auf ſein Verlangen muſte er ihm die letzten Reden Jeſu im Johannes, und Se- midas Selbſtgeſpraͤch im vierten Geſang der Meſ- ſiade vorleſen. Beyde waren ſehr geruͤhrt. Der Kranke hub ſeine Augen in die Hoͤhe, und ſagte: Segen dem Manne, der die Heiligkeit der Liebe ſo tief gefuͤhlt hat! Wohl dem, der, wie er, fuͤhlt! Dann betete er ſtill zu Gott; rief einigemal laut: Gnade mir, Erbarmer! und dann weinte er. Seg- ne Marianen! ſprach er leiſer. Gib ihr einen Mann, der fromm und rein liebt! Den ganzen Tag uͤber lag er matt da; ſeine Kraͤfte nahmen ſichtbar ab. Gegen Abend ſchien ſein Ende nahe. Lieber Siegwart, ſagte er: Ver- ſichern Sie meinen Vater meiner Liebe, meines Danks, und meiner Reue! Sagen Sie ihm, daß ich Marianen liebte; daß ich durch ſie fromm ward, und nun freudiger zu Gott geh! Jch wollt ihn durch mein Auſſenbleiben nicht betruͤben. Eine innre, unbekannte Kraft hielt mich zuruͤck. Es war mehr, als Liebe. Jhr zu widerſtehen, war mir unmoͤglich. Sagen Sie ihm alles, alles! — Nach einigem Schweigen fuhr er fort: Noch einmal, um Gottes willen, lieber Siegwart, be-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 644. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/224>, abgerufen am 25.04.2024.