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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Kronhelms Vorwissen. Freund! wie war mir
das so neu! Wie viele, vorher nie gefühlte Empfin-
dungen füllten da mein Herz! Wie ward es oft
zur Anbetung des Schöpfers hingerissen! Jch sah
nun die Natur mit ganz andern Augen an. Jede
Blume, jeder Vogel, jede schöne Gegend ward mir
wichtiger, und lehrte mich den Schöpfer im Geschöpf
bewundern. Mein Herz ward reizbarer und em-
pfindlicher fürs Gute und fürs Schöne. Jch sah
die Harmonie der Schöpfung, trug sie auf meine
Handlungen über; schätzte sie im Leben und der
Denkungsart andrer Menschen mehr; sah bey mir
selbst mehr auf äusserlichen Anstand; und ward ge-
gen jedes Elend mitleidig.

Sein Gespräch ward durch die Ankunft Bolings
unterbrochen. Dieser erbot sich, mit Siegwart zu
wachen, damit der Eine etwas schlafen könnte, wäh-
rend daß der andre wachte. Unser Siegwart er-
wählte die Vormitternacht zum Wachen, denn er
sah beym Hofrath Fischer Licht, und hoffte, seine
Mariane noch einmal zu sehen. Als Gutfried
etwas einschlummerte, setzte sich Boling in den
Lehnstuhl, um zu schlafen, und Siegwart legte sich
ins Fenster, ob er Marianen nicht erblicke? Ein
paarmal sah er etwas am Fenster hin und her



Kronhelms Vorwiſſen. Freund! wie war mir
das ſo neu! Wie viele, vorher nie gefuͤhlte Empfin-
dungen fuͤllten da mein Herz! Wie ward es oft
zur Anbetung des Schoͤpfers hingeriſſen! Jch ſah
nun die Natur mit ganz andern Augen an. Jede
Blume, jeder Vogel, jede ſchoͤne Gegend ward mir
wichtiger, und lehrte mich den Schoͤpfer im Geſchoͤpf
bewundern. Mein Herz ward reizbarer und em-
pfindlicher fuͤrs Gute und fuͤrs Schoͤne. Jch ſah
die Harmonie der Schoͤpfung, trug ſie auf meine
Handlungen uͤber; ſchaͤtzte ſie im Leben und der
Denkungsart andrer Menſchen mehr; ſah bey mir
ſelbſt mehr auf aͤuſſerlichen Anſtand; und ward ge-
gen jedes Elend mitleidig.

Sein Geſpraͤch ward durch die Ankunft Bolings
unterbrochen. Dieſer erbot ſich, mit Siegwart zu
wachen, damit der Eine etwas ſchlafen koͤnnte, waͤh-
rend daß der andre wachte. Unſer Siegwart er-
waͤhlte die Vormitternacht zum Wachen, denn er
ſah beym Hofrath Fiſcher Licht, und hoffte, ſeine
Mariane noch einmal zu ſehen. Als Gutfried
etwas einſchlummerte, ſetzte ſich Boling in den
Lehnſtuhl, um zu ſchlafen, und Siegwart legte ſich
ins Fenſter, ob er Marianen nicht erblicke? Ein
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[639/0219] Kronhelms Vorwiſſen. Freund! wie war mir das ſo neu! Wie viele, vorher nie gefuͤhlte Empfin- dungen fuͤllten da mein Herz! Wie ward es oft zur Anbetung des Schoͤpfers hingeriſſen! Jch ſah nun die Natur mit ganz andern Augen an. Jede Blume, jeder Vogel, jede ſchoͤne Gegend ward mir wichtiger, und lehrte mich den Schoͤpfer im Geſchoͤpf bewundern. Mein Herz ward reizbarer und em- pfindlicher fuͤrs Gute und fuͤrs Schoͤne. Jch ſah die Harmonie der Schoͤpfung, trug ſie auf meine Handlungen uͤber; ſchaͤtzte ſie im Leben und der Denkungsart andrer Menſchen mehr; ſah bey mir ſelbſt mehr auf aͤuſſerlichen Anſtand; und ward ge- gen jedes Elend mitleidig. Sein Geſpraͤch ward durch die Ankunft Bolings unterbrochen. Dieſer erbot ſich, mit Siegwart zu wachen, damit der Eine etwas ſchlafen koͤnnte, waͤh- rend daß der andre wachte. Unſer Siegwart er- waͤhlte die Vormitternacht zum Wachen, denn er ſah beym Hofrath Fiſcher Licht, und hoffte, ſeine Mariane noch einmal zu ſehen. Als Gutfried etwas einſchlummerte, ſetzte ſich Boling in den Lehnſtuhl, um zu ſchlafen, und Siegwart legte ſich ins Fenſter, ob er Marianen nicht erblicke? Ein paarmal ſah er etwas am Fenſter hin und her

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 639. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/219>, abgerufen am 29.03.2024.