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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Erst nach etlichen Minuten gieng er wieder aus
Krankenbette. Gutfried gab ihm seine Hand.
Lieber Freund, sagte er mit sanfter Stimme, wir
könnten so viel reine Freuden auf der Welt genies-
sen, daß wir solcher Ausschweifungen nicht nöthig
hätten. Wie viel frohe himmlische Abende gab uns,
dieses letzte halbe Jahr, die Freundschaft! Gott!
wie sassen wir oft so vergnügt zusammen, und fühl-
tens erst am Ende, daß die Zeit so schnell verstri-
chen war. Welche reine, unverfälschte Freuden gab
uns die Musik! Wie erhub sie unser Herz zu himm-
lischen Empfindungen; zu Entschlüssen, etwas Gros-
ses und Edles für die Welt zu thun. Wie erquick-
te sie uns nach unserm Studieren! Am Abend
wars uns, als ob wir den ganzen Tag in reiner
Wollust zugebracht hätten. Und die schönen Wis-
senschaften! -- Jhnen verdank ich, nächst der Liebe
zur Tugend und zu Marianen, mein verfeinertes,
veredeltes Gefühl am meisten. Jch liebte Maria-
nen, und durch sie, die Tugend schon eine geraume
Zeit; aber in meinem äusserlichen Wesen war im-
mer noch viel Rohes und Unbehagliches. Nun sah
ich bey ihr einmal ein Buch von Kronhelm liegen;
es waren Kleists Werke. Jch sah hinein; und es
gefiel mir. Mariane lehnte mir das Buch mit



Erſt nach etlichen Minuten gieng er wieder aus
Krankenbette. Gutfried gab ihm ſeine Hand.
Lieber Freund, ſagte er mit ſanfter Stimme, wir
koͤnnten ſo viel reine Freuden auf der Welt genieſ-
ſen, daß wir ſolcher Ausſchweifungen nicht noͤthig
haͤtten. Wie viel frohe himmliſche Abende gab uns,
dieſes letzte halbe Jahr, die Freundſchaft! Gott!
wie ſaſſen wir oft ſo vergnuͤgt zuſammen, und fuͤhl-
tens erſt am Ende, daß die Zeit ſo ſchnell verſtri-
chen war. Welche reine, unverfaͤlſchte Freuden gab
uns die Muſik! Wie erhub ſie unſer Herz zu himm-
liſchen Empfindungen; zu Entſchluͤſſen, etwas Groſ-
ſes und Edles fuͤr die Welt zu thun. Wie erquick-
te ſie uns nach unſerm Studieren! Am Abend
wars uns, als ob wir den ganzen Tag in reiner
Wolluſt zugebracht haͤtten. Und die ſchoͤnen Wiſ-
ſenſchaften! — Jhnen verdank ich, naͤchſt der Liebe
zur Tugend und zu Marianen, mein verfeinertes,
veredeltes Gefuͤhl am meiſten. Jch liebte Maria-
nen, und durch ſie, die Tugend ſchon eine geraume
Zeit; aber in meinem aͤuſſerlichen Weſen war im-
mer noch viel Rohes und Unbehagliches. Nun ſah
ich bey ihr einmal ein Buch von Kronhelm liegen;
es waren Kleiſts Werke. Jch ſah hinein; und es
gefiel mir. Mariane lehnte mir das Buch mit

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[638/0218] Erſt nach etlichen Minuten gieng er wieder aus Krankenbette. Gutfried gab ihm ſeine Hand. Lieber Freund, ſagte er mit ſanfter Stimme, wir koͤnnten ſo viel reine Freuden auf der Welt genieſ- ſen, daß wir ſolcher Ausſchweifungen nicht noͤthig haͤtten. Wie viel frohe himmliſche Abende gab uns, dieſes letzte halbe Jahr, die Freundſchaft! Gott! wie ſaſſen wir oft ſo vergnuͤgt zuſammen, und fuͤhl- tens erſt am Ende, daß die Zeit ſo ſchnell verſtri- chen war. Welche reine, unverfaͤlſchte Freuden gab uns die Muſik! Wie erhub ſie unſer Herz zu himm- liſchen Empfindungen; zu Entſchluͤſſen, etwas Groſ- ſes und Edles fuͤr die Welt zu thun. Wie erquick- te ſie uns nach unſerm Studieren! Am Abend wars uns, als ob wir den ganzen Tag in reiner Wolluſt zugebracht haͤtten. Und die ſchoͤnen Wiſ- ſenſchaften! — Jhnen verdank ich, naͤchſt der Liebe zur Tugend und zu Marianen, mein verfeinertes, veredeltes Gefuͤhl am meiſten. Jch liebte Maria- nen, und durch ſie, die Tugend ſchon eine geraume Zeit; aber in meinem aͤuſſerlichen Weſen war im- mer noch viel Rohes und Unbehagliches. Nun ſah ich bey ihr einmal ein Buch von Kronhelm liegen; es waren Kleiſts Werke. Jch ſah hinein; und es gefiel mir. Mariane lehnte mir das Buch mit

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 638. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/218>, abgerufen am 28.03.2024.