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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Aber Sie weis es nicht! --
Gott im Himmel, laß mich sterben,
Wenn du nicht für mich den Engel schufest!

Noch zwey Stunden blieb er auf, und verfiel aufs
neu in ängstliche Zweifel wegen seiner Mariane.
Er glaubte, er müste Kronhelm noch erwarten; aber
endlich ward sein Zimmer zu kalt, und er legte sich
zu Bette. Kein Schlaf kam in seine Augen, jede
Viertelstunde hörte er schlagen. Seine Phantasie
arbeitete fürchterlich. Um vier Uhr hörte er endlich
die Hausthüre öffnen, und seinen Kronhelm kom-
men. Ein kalter Schauer lief ihm über seine Glie-
der. -- Gott! -- der Glückliche! dachte er; hüll-
te sein Gesicht ins Kissen ein, und weinte. End-
lich kam ein kurzer und unruhiger Schlummer.
Den andern Morgen, als er ins Kollegium gieng,
schlief Kronhelm noch; um eilf Uhr gieng er bey
Marianens Haus vorbey. Das Haus war ein
Eckhaus; sie sah in die Strasse, durch die Sieg-
wart gieng; und als er sich in die andre wendete,
sah sie auf der andern Seite auch heraus, ihm nach.
Dieß bemerkte er nachher immer, und schloß mit
Recht viel Gutes draus. Aber heut war ihm al-
les gleichgültig, und er fühlte nichts, als Gram und



Aber Sie weis es nicht! —
Gott im Himmel, laß mich ſterben,
Wenn du nicht fuͤr mich den Engel ſchufeſt!

Noch zwey Stunden blieb er auf, und verfiel aufs
neu in aͤngſtliche Zweifel wegen ſeiner Mariane.
Er glaubte, er muͤſte Kronhelm noch erwarten; aber
endlich ward ſein Zimmer zu kalt, und er legte ſich
zu Bette. Kein Schlaf kam in ſeine Augen, jede
Viertelſtunde hoͤrte er ſchlagen. Seine Phantaſie
arbeitete fuͤrchterlich. Um vier Uhr hoͤrte er endlich
die Hausthuͤre oͤffnen, und ſeinen Kronhelm kom-
men. Ein kalter Schauer lief ihm uͤber ſeine Glie-
der. — Gott! — der Gluͤckliche! dachte er; huͤll-
te ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und weinte. End-
lich kam ein kurzer und unruhiger Schlummer.
Den andern Morgen, als er ins Kollegium gieng,
ſchlief Kronhelm noch; um eilf Uhr gieng er bey
Marianens Haus vorbey. Das Haus war ein
Eckhaus; ſie ſah in die Straſſe, durch die Sieg-
wart gieng; und als er ſich in die andre wendete,
ſah ſie auf der andern Seite auch heraus, ihm nach.
Dieß bemerkte er nachher immer, und ſchloß mit
Recht viel Gutes draus. Aber heut war ihm al-
les gleichguͤltig, und er fuͤhlte nichts, als Gram und

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[619/0199] Aber Sie weis es nicht! — Gott im Himmel, laß mich ſterben, Wenn du nicht fuͤr mich den Engel ſchufeſt! Noch zwey Stunden blieb er auf, und verfiel aufs neu in aͤngſtliche Zweifel wegen ſeiner Mariane. Er glaubte, er muͤſte Kronhelm noch erwarten; aber endlich ward ſein Zimmer zu kalt, und er legte ſich zu Bette. Kein Schlaf kam in ſeine Augen, jede Viertelſtunde hoͤrte er ſchlagen. Seine Phantaſie arbeitete fuͤrchterlich. Um vier Uhr hoͤrte er endlich die Hausthuͤre oͤffnen, und ſeinen Kronhelm kom- men. Ein kalter Schauer lief ihm uͤber ſeine Glie- der. — Gott! — der Gluͤckliche! dachte er; huͤll- te ſein Geſicht ins Kiſſen ein, und weinte. End- lich kam ein kurzer und unruhiger Schlummer. Den andern Morgen, als er ins Kollegium gieng, ſchlief Kronhelm noch; um eilf Uhr gieng er bey Marianens Haus vorbey. Das Haus war ein Eckhaus; ſie ſah in die Straſſe, durch die Sieg- wart gieng; und als er ſich in die andre wendete, ſah ſie auf der andern Seite auch heraus, ihm nach. Dieß bemerkte er nachher immer, und ſchloß mit Recht viel Gutes draus. Aber heut war ihm al- les gleichguͤltig, und er fuͤhlte nichts, als Gram und

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 619. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/199>, abgerufen am 24.04.2024.