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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Wunder sehen! O, sie hat ein himmlisches Ge-
müth! Nach deiner Schwester kenn ich gar kein
beßres Mädchen. So viel Verstand, so viel Em-
pfindung und Gutherzigkeit, so viel Festigkeit der
Seele, und edeln Stolz und Unschuld trift man
selten beysammen an. Ueberhaupt hat sie mit The-
resen sehr viel Aehnlichkeit, nur daß sie kälter
scheint, und, wie mir deucht, etwas eigensinnig
ist, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will.
Jhre Mutter haft du auch gesehen; das ist eine trefliche
Frau, die es selbst nicht weis, wie gut sie ist. Sie
ist die Bescheidenheit und Frömmigkeit selbst, und
liebt ihre Tochter über alles. Man könnte sie für
übertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt
alles aus gutem Herzen.

Siegwart legte sich voll froher Vorstellungen
schlafen. Das Versprechen Kronhelms, ihn mit
Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm
tausend glänzende Aussichten. Er sah eine wonne-
volle Zukunft vor sich, und machte tausend Plane
von Glückseligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er
unter allerley Vorwand zu Gutfried, um sie oft
zu sehen, und sie stand oft eine Viertelstunde lang
am Fenster, und blickte oft herüber. Jn der Kir-



Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge-
muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein
beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em-
pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der
Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man
ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The-
reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter
ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig
iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will.
Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche
Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie
iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und
liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr
uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt
alles aus gutem Herzen.

Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen
ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit
Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm
tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne-
volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane
von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er
unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft
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[612/0192] Wunder ſehen! O, ſie hat ein himmliſches Ge- muͤth! Nach deiner Schweſter kenn ich gar kein beßres Maͤdchen. So viel Verſtand, ſo viel Em- pfindung und Gutherzigkeit, ſo viel Feſtigkeit der Seele, und edeln Stolz und Unſchuld trift man ſelten beyſammen an. Ueberhaupt hat ſie mit The- reſen ſehr viel Aehnlichkeit, nur daß ſie kaͤlter ſcheint, und, wie mir deucht, etwas eigenſinnig iſt, wenn mans nicht Standhaftigkeit nennen will. Jhre Mutter haft du auch geſehen; das iſt eine trefliche Frau, die es ſelbſt nicht weis, wie gut ſie iſt. Sie iſt die Beſcheidenheit und Froͤmmigkeit ſelbſt, und liebt ihre Tochter uͤber alles. Man koͤnnte ſie fuͤr uͤbertrieben fromm halten, aber bey ihr kommt alles aus gutem Herzen. Siegwart legte ſich voll froher Vorſtellungen ſchlafen. Das Verſprechen Kronhelms, ihn mit Marianen genauer bekannt zu machen, gab ihm tauſend glaͤnzende Ausſichten. Er ſah eine wonne- volle Zukunft vor ſich, und machte tauſend Plane von Gluͤckſeligkeit. Zwey- oder dreymal gieng er unter allerley Vorwand zu Gutfried, um ſie oft zu ſehen, und ſie ſtand oft eine Viertelſtunde lang am Fenſter, und blickte oft heruͤber. Jn der Kir-

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 612. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/192>, abgerufen am 25.04.2024.