Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



was man sich von einer regelmässigen und be-
lebten Schönheit denken kann. Hiezu kam die
Andacht, die jede Schönheit noch verschönert, und
die offene Freundlichkeit, mit der sie jeden, der bey
ihrem Stuhl vorbeygieng, grüste. Jhre Kleidung
war geschmackvoll, regelmässig, schön, und doch
nicht prächtig. Jn ihren Haaren steckten Blumen,
die Vergißmeinnichtchen vorstellten; ihr Busen war
mit Sittsamkeit verschleyert; ihr Gewand von
himmelblauer Seide. Sie sah unsern ausser sich
gebrachten Siegwart zu verschiednenmalen, und
schlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward
traurig, sobald sie eine Zeitlang nicht nach ihm
blickte, und wandte doch sein Auge von ihr weg,
sobald sie's that. Er machte traurige Gebärden, in
der Absicht, daß sies merken, und Mitleid mit
ihm haben sollte. Als sie weggieng, gieng er auch,
und folgte ihr, ungefähr 20 oder 30 Schritt weit,
hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi-
schers Haus. Er erschrack drüber. Gott! wenn
der Hofrath ihr Vater ist, dachte er, so ist mein
Unglück vollkommen. Wenn der stolze Mann ihr
Vater ist, was fang ich an? -- Er gieng zu
Gutfried, der, wie schon gesagt, dem Hofrath ge-
genüber wohnte, und eben aus dem Fenster sah,



was man ſich von einer regelmaͤſſigen und be-
lebten Schoͤnheit denken kann. Hiezu kam die
Andacht, die jede Schoͤnheit noch verſchoͤnert, und
die offene Freundlichkeit, mit der ſie jeden, der bey
ihrem Stuhl vorbeygieng, gruͤſte. Jhre Kleidung
war geſchmackvoll, regelmaͤſſig, ſchoͤn, und doch
nicht praͤchtig. Jn ihren Haaren ſteckten Blumen,
die Vergißmeinnichtchen vorſtellten; ihr Buſen war
mit Sittſamkeit verſchleyert; ihr Gewand von
himmelblauer Seide. Sie ſah unſern auſſer ſich
gebrachten Siegwart zu verſchiednenmalen, und
ſchlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward
traurig, ſobald ſie eine Zeitlang nicht nach ihm
blickte, und wandte doch ſein Auge von ihr weg,
ſobald ſie’s that. Er machte traurige Gebaͤrden, in
der Abſicht, daß ſies merken, und Mitleid mit
ihm haben ſollte. Als ſie weggieng, gieng er auch,
und folgte ihr, ungefaͤhr 20 oder 30 Schritt weit,
hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi-
ſchers Haus. Er erſchrack druͤber. Gott! wenn
der Hofrath ihr Vater iſt, dachte er, ſo iſt mein
Ungluͤck vollkommen. Wenn der ſtolze Mann ihr
Vater iſt, was fang ich an? — Er gieng zu
Gutfried, der, wie ſchon geſagt, dem Hofrath ge-
genuͤber wohnte, und eben aus dem Fenſter ſah,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0174" n="594"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
was man &#x017F;ich von einer regelma&#x0364;&#x017F;&#x017F;igen und be-<lb/>
lebten Scho&#x0364;nheit denken kann. Hiezu kam die<lb/>
Andacht, die jede Scho&#x0364;nheit noch ver&#x017F;cho&#x0364;nert, und<lb/>
die offene Freundlichkeit, mit der &#x017F;ie jeden, der bey<lb/>
ihrem Stuhl vorbeygieng, gru&#x0364;&#x017F;te. Jhre Kleidung<lb/>
war ge&#x017F;chmackvoll, regelma&#x0364;&#x017F;&#x017F;ig, &#x017F;cho&#x0364;n, und doch<lb/>
nicht pra&#x0364;chtig. Jn ihren Haaren &#x017F;teckten Blumen,<lb/>
die Vergißmeinnichtchen vor&#x017F;tellten; ihr Bu&#x017F;en war<lb/>
mit Sitt&#x017F;amkeit ver&#x017F;chleyert; ihr Gewand von<lb/>
himmelblauer Seide. Sie &#x017F;ah un&#x017F;ern au&#x017F;&#x017F;er &#x017F;ich<lb/>
gebrachten Siegwart zu ver&#x017F;chiednenmalen, und<lb/>
&#x017F;chlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward<lb/>
traurig, &#x017F;obald &#x017F;ie eine Zeitlang nicht nach ihm<lb/>
blickte, und wandte doch &#x017F;ein Auge von ihr weg,<lb/>
&#x017F;obald &#x017F;ie&#x2019;s that. Er machte traurige Geba&#x0364;rden, in<lb/>
der Ab&#x017F;icht, daß &#x017F;ies merken, und Mitleid mit<lb/>
ihm haben &#x017F;ollte. Als &#x017F;ie weggieng, gieng er auch,<lb/>
und folgte ihr, ungefa&#x0364;hr 20 oder 30 Schritt weit,<lb/>
hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi-<lb/>
&#x017F;chers Haus. Er er&#x017F;chrack dru&#x0364;ber. Gott! wenn<lb/>
der Hofrath ihr Vater i&#x017F;t, dachte er, &#x017F;o i&#x017F;t mein<lb/>
Unglu&#x0364;ck vollkommen. Wenn der &#x017F;tolze Mann ihr<lb/>
Vater i&#x017F;t, was fang ich an? &#x2014; Er gieng zu<lb/>
Gutfried, der, wie &#x017F;chon ge&#x017F;agt, dem Hofrath ge-<lb/>
genu&#x0364;ber wohnte, und eben aus dem Fen&#x017F;ter &#x017F;ah,<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[594/0174] was man ſich von einer regelmaͤſſigen und be- lebten Schoͤnheit denken kann. Hiezu kam die Andacht, die jede Schoͤnheit noch verſchoͤnert, und die offene Freundlichkeit, mit der ſie jeden, der bey ihrem Stuhl vorbeygieng, gruͤſte. Jhre Kleidung war geſchmackvoll, regelmaͤſſig, ſchoͤn, und doch nicht praͤchtig. Jn ihren Haaren ſteckten Blumen, die Vergißmeinnichtchen vorſtellten; ihr Buſen war mit Sittſamkeit verſchleyert; ihr Gewand von himmelblauer Seide. Sie ſah unſern auſſer ſich gebrachten Siegwart zu verſchiednenmalen, und ſchlug die Augen nieder, wenn ers merkte. Er ward traurig, ſobald ſie eine Zeitlang nicht nach ihm blickte, und wandte doch ſein Auge von ihr weg, ſobald ſie’s that. Er machte traurige Gebaͤrden, in der Abſicht, daß ſies merken, und Mitleid mit ihm haben ſollte. Als ſie weggieng, gieng er auch, und folgte ihr, ungefaͤhr 20 oder 30 Schritt weit, hinter ihr nach. Sie gieng in des Hofrath Fi- ſchers Haus. Er erſchrack druͤber. Gott! wenn der Hofrath ihr Vater iſt, dachte er, ſo iſt mein Ungluͤck vollkommen. Wenn der ſtolze Mann ihr Vater iſt, was fang ich an? — Er gieng zu Gutfried, der, wie ſchon geſagt, dem Hofrath ge- genuͤber wohnte, und eben aus dem Fenſter ſah,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/174
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 594. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/174>, abgerufen am 19.04.2024.