Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

Bild:
<< vorherige Seite



kanns nicht! -- Und nun schwiegen sie lang. --
Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub
Kronhelm wieder an. Wenn sie mich vergessen,
mir untreu werden könnte. -- Und doch! -- soll
sie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we-
nigstens ohne Gewißheit, sogar ohne Wahrschein-
lichkeit: O, mein Leiden ist das gröste! Duld und
harre! sagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt
sind mancherley. Jch bin auch nicht glücklich. --
Er wollte reden; aber eine plötzliche Aengstlichkeit
hielt ihn wieder zurück.

Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei-
dete sich gut, und gieng voll banger Ahndung in
die Kirche. Er setzte sich in einen Stuhl, von dem
er die ganze Kirche übersehen konnte. Das Mäd-
chen war noch nicht da. Er ward verwirrt drüber;
dankte aber doch Gott für die Genesung seines Va-
ters brünstig. Nach einer halben Stunde öfnete
sich die Kirchenthüre, und das Mädchen trat her-
ein, schwarz gekleidet, mit einer etwas bejährten
Frau von angenehmer und sanfter Gesichtsbildung.
Sein Herz schlug ungestüm. Sie setzte sich ihm
gegenüber in einen vergitterten Stuhl, an dem
aber das Gitter zurückgeschoben war. Sie setzte
sich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-



kanns nicht! — Und nun ſchwiegen ſie lang. —
Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub
Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen,
mir untreu werden koͤnnte. — Und doch! — ſoll
ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we-
nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein-
lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und
harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt
ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. —
Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit
hielt ihn wieder zuruͤck.

Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei-
dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in
die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem
er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd-
chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber;
dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va-
ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete
ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her-
ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten
Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung.
Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm
gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem
aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte
ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0155" n="575"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
kanns nicht! &#x2014; Und nun &#x017F;chwiegen &#x017F;ie lang. &#x2014;<lb/>
Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub<lb/>
Kronhelm wieder an. Wenn &#x017F;ie mich verge&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
mir untreu werden ko&#x0364;nnte. &#x2014; Und doch! &#x2014; &#x017F;oll<lb/>
&#x017F;ie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we-<lb/>
nig&#x017F;tens ohne Gewißheit, &#x017F;ogar ohne Wahr&#x017F;chein-<lb/>
lichkeit: O, mein Leiden i&#x017F;t das gro&#x0364;&#x017F;te! Duld und<lb/>
harre! &#x017F;agte Siegwart. Die Leiden auf der Welt<lb/>
&#x017F;ind mancherley. Jch bin auch nicht glu&#x0364;cklich. &#x2014;<lb/>
Er wollte reden; aber eine plo&#x0364;tzliche Aeng&#x017F;tlichkeit<lb/>
hielt ihn wieder zuru&#x0364;ck.</p><lb/>
        <p>Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei-<lb/>
dete &#x017F;ich gut, und gieng voll banger Ahndung in<lb/>
die Kirche. Er &#x017F;etzte &#x017F;ich in einen Stuhl, von dem<lb/>
er die ganze Kirche u&#x0364;ber&#x017F;ehen konnte. Das Ma&#x0364;d-<lb/>
chen war noch nicht da. Er ward verwirrt dru&#x0364;ber;<lb/>
dankte aber doch Gott fu&#x0364;r die Gene&#x017F;ung &#x017F;eines Va-<lb/>
ters bru&#x0364;n&#x017F;tig. Nach einer halben Stunde o&#x0364;fnete<lb/>
&#x017F;ich die Kirchenthu&#x0364;re, und das Ma&#x0364;dchen trat her-<lb/>
ein, &#x017F;chwarz gekleidet, mit einer etwas beja&#x0364;hrten<lb/>
Frau von angenehmer und &#x017F;anfter Ge&#x017F;ichtsbildung.<lb/>
Sein Herz &#x017F;chlug unge&#x017F;tu&#x0364;m. Sie &#x017F;etzte &#x017F;ich ihm<lb/>
gegenu&#x0364;ber in einen vergitterten Stuhl, an dem<lb/>
aber das Gitter zuru&#x0364;ckge&#x017F;choben war. Sie &#x017F;etzte<lb/>
&#x017F;ich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[575/0155] kanns nicht! — Und nun ſchwiegen ſie lang. — Jch weis nicht, ob ichs lang mehr aushalte? hub Kronhelm wieder an. Wenn ſie mich vergeſſen, mir untreu werden koͤnnte. — Und doch! — ſoll ſie ohne Hofnung harren? Ohne Hofnung! we- nigſtens ohne Gewißheit, ſogar ohne Wahrſchein- lichkeit: O, mein Leiden iſt das groͤſte! Duld und harre! ſagte Siegwart. Die Leiden auf der Welt ſind mancherley. Jch bin auch nicht gluͤcklich. — Er wollte reden; aber eine ploͤtzliche Aengſtlichkeit hielt ihn wieder zuruͤck. Der Sonntagsmorgen brach an. Siegwart klei- dete ſich gut, und gieng voll banger Ahndung in die Kirche. Er ſetzte ſich in einen Stuhl, von dem er die ganze Kirche uͤberſehen konnte. Das Maͤd- chen war noch nicht da. Er ward verwirrt druͤber; dankte aber doch Gott fuͤr die Geneſung ſeines Va- ters bruͤnſtig. Nach einer halben Stunde oͤfnete ſich die Kirchenthuͤre, und das Maͤdchen trat her- ein, ſchwarz gekleidet, mit einer etwas bejaͤhrten Frau von angenehmer und ſanfter Geſichtsbildung. Sein Herz ſchlug ungeſtuͤm. Sie ſetzte ſich ihm gegenuͤber in einen vergitterten Stuhl, an dem aber das Gitter zuruͤckgeſchoben war. Sie ſetzte ſich nieder, und las in einem Gebetbuch. Zuwei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/155
Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 575. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/155>, abgerufen am 29.03.2024.