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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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und zärtlich war, seinem Freunde das Geringste
von dem Mädchen zu entdecken. Ganze Stunden
sassen sie in der Dämmerung, ohne Licht, beysam-
men; seufzten und klagten mit einander, oder spiel-
ten wehklagende Stücke. Am Sonnabend bekam
Siegwart einen Brief von Theresen, und die
Versicherung, daß ihr Vater wieder ganz hergestellt
sey. Dieß war ihm ein grosser Trost, aber ganz
freuen konnte er sich nicht. Gott! ich danke dir,
sagte er. Du bist gütig und barmherzig. Nur
verzeihe mir meine Schwachheit! Ach, ich kann mich
nur halb freuen. Du weists, ich bin nicht undankbar!
Mein Jammer ist dir nicht verborgen! Von einer
Seite hast du mich geheilet; aber von der andern
frist der Schmerz immer tiefer! Gott! wenn ichs
würdig bin, ach, wenn ichs würdig bin, so er-
barm dich meiner! Laß mich sie sehen, oder laß mich
sterben! -- Nun dachte er wieder sie nur ganz allein.
Morgen, morgen, rief er, Leben oder Tod! -- Er
gieng auf Kronhelms Zimmer, und brachte ihm die
Nachricht von der Genesung seines Vaters. -- Und
von Theresen hast du mir nichts? sagte Kronhelm
wehmüthig. -- Nichts, mein Lieber, als einen Gruß.
Ach du daurest mich unendlich. Jch kann dirs nicht
sagen, wie tief ich deine Leiden fühle! Gott weis, ich



und zaͤrtlich war, ſeinem Freunde das Geringſte
von dem Maͤdchen zu entdecken. Ganze Stunden
ſaſſen ſie in der Daͤmmerung, ohne Licht, beyſam-
men; ſeufzten und klagten mit einander, oder ſpiel-
ten wehklagende Stuͤcke. Am Sonnabend bekam
Siegwart einen Brief von Thereſen, und die
Verſicherung, daß ihr Vater wieder ganz hergeſtellt
ſey. Dieß war ihm ein groſſer Troſt, aber ganz
freuen konnte er ſich nicht. Gott! ich danke dir,
ſagte er. Du biſt guͤtig und barmherzig. Nur
verzeihe mir meine Schwachheit! Ach, ich kann mich
nur halb freuen. Du weiſts, ich bin nicht undankbar!
Mein Jammer iſt dir nicht verborgen! Von einer
Seite haſt du mich geheilet; aber von der andern
friſt der Schmerz immer tiefer! Gott! wenn ichs
wuͤrdig bin, ach, wenn ichs wuͤrdig bin, ſo er-
barm dich meiner! Laß mich ſie ſehen, oder laß mich
ſterben! — Nun dachte er wieder ſie nur ganz allein.
Morgen, morgen, rief er, Leben oder Tod! — Er
gieng auf Kronhelms Zimmer, und brachte ihm die
Nachricht von der Geneſung ſeines Vaters. — Und
von Thereſen haſt du mir nichts? ſagte Kronhelm
wehmuͤthig. — Nichts, mein Lieber, als einen Gruß.
Ach du daureſt mich unendlich. Jch kann dirs nicht
ſagen, wie tief ich deine Leiden fuͤhle! Gott weis, ich

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[574/0154] und zaͤrtlich war, ſeinem Freunde das Geringſte von dem Maͤdchen zu entdecken. Ganze Stunden ſaſſen ſie in der Daͤmmerung, ohne Licht, beyſam- men; ſeufzten und klagten mit einander, oder ſpiel- ten wehklagende Stuͤcke. Am Sonnabend bekam Siegwart einen Brief von Thereſen, und die Verſicherung, daß ihr Vater wieder ganz hergeſtellt ſey. Dieß war ihm ein groſſer Troſt, aber ganz freuen konnte er ſich nicht. Gott! ich danke dir, ſagte er. Du biſt guͤtig und barmherzig. Nur verzeihe mir meine Schwachheit! Ach, ich kann mich nur halb freuen. Du weiſts, ich bin nicht undankbar! Mein Jammer iſt dir nicht verborgen! Von einer Seite haſt du mich geheilet; aber von der andern friſt der Schmerz immer tiefer! Gott! wenn ichs wuͤrdig bin, ach, wenn ichs wuͤrdig bin, ſo er- barm dich meiner! Laß mich ſie ſehen, oder laß mich ſterben! — Nun dachte er wieder ſie nur ganz allein. Morgen, morgen, rief er, Leben oder Tod! — Er gieng auf Kronhelms Zimmer, und brachte ihm die Nachricht von der Geneſung ſeines Vaters. — Und von Thereſen haſt du mir nichts? ſagte Kronhelm wehmuͤthig. — Nichts, mein Lieber, als einen Gruß. Ach du daureſt mich unendlich. Jch kann dirs nicht ſagen, wie tief ich deine Leiden fuͤhle! Gott weis, ich

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 574. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/154>, abgerufen am 25.04.2024.