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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Er stand auf, nahm seine Violine, und spielte
mit. -- Von wem ist das Stück? fragte er, als
es ausgespielt war. Von Fils, antwortete einer.
Das war ein herrlicher Kerl! Seine besten Stü-
cke hat er in der rasendsten Liebe gemacht; und als
es ihm nicht nach Wunsch gieng, aß er Glas, und
starb dran. -- Das ist vortreflich, sagte Sieg-
wart, wir wollen das Stück noch einmal spielen!
Sie spieltens wieder. -- Bey einem Quatuor von
Boccherini versank er wieder in die tiefste Schwer-
muth, in der er den ganzen Abend blieb. -- Die
ganze Woche strich ihm traurig hin. Die Unruhe
über die Krankheit seines Vaters verdrang das Bild
des Mädchens etwas aus seinem Herzen, oder
überzog es vielmehr nur mit einer Art von Schley-
er. Oft stand es wieder frey, und in allem seinem
Reiz vor ihm da. Er lief alle Strassen der Stadt
durch, ob er sein geliebtes Mädchen nirgends ent-
decke? Aber nirgend sah ers. Jn die Kirchen
konnte er die Woche über nicht gehen, weil er seine
Kollegia gewissenhaft besuchte. Er und Kronhelm
machten nun eine traurige Figur zusammen. Kei-
ner konnte den andern trösten. Sie weideten sich
an ihrem wechselseitigen Schmerz, und vereinigten
ihre Klagen, obwol Siegwart viel zu furchtsam



Er ſtand auf, nahm ſeine Violine, und ſpielte
mit. — Von wem iſt das Stuͤck? fragte er, als
es ausgeſpielt war. Von Fils, antwortete einer.
Das war ein herrlicher Kerl! Seine beſten Stuͤ-
cke hat er in der raſendſten Liebe gemacht; und als
es ihm nicht nach Wunſch gieng, aß er Glas, und
ſtarb dran. — Das iſt vortreflich, ſagte Sieg-
wart, wir wollen das Stuͤck noch einmal ſpielen!
Sie ſpieltens wieder. — Bey einem Quatuor von
Boccherini verſank er wieder in die tiefſte Schwer-
muth, in der er den ganzen Abend blieb. — Die
ganze Woche ſtrich ihm traurig hin. Die Unruhe
uͤber die Krankheit ſeines Vaters verdrang das Bild
des Maͤdchens etwas aus ſeinem Herzen, oder
uͤberzog es vielmehr nur mit einer Art von Schley-
er. Oft ſtand es wieder frey, und in allem ſeinem
Reiz vor ihm da. Er lief alle Straſſen der Stadt
durch, ob er ſein geliebtes Maͤdchen nirgends ent-
decke? Aber nirgend ſah ers. Jn die Kirchen
konnte er die Woche uͤber nicht gehen, weil er ſeine
Kollegia gewiſſenhaft beſuchte. Er und Kronhelm
machten nun eine traurige Figur zuſammen. Kei-
ner konnte den andern troͤſten. Sie weideten ſich
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[573/0153] Er ſtand auf, nahm ſeine Violine, und ſpielte mit. — Von wem iſt das Stuͤck? fragte er, als es ausgeſpielt war. Von Fils, antwortete einer. Das war ein herrlicher Kerl! Seine beſten Stuͤ- cke hat er in der raſendſten Liebe gemacht; und als es ihm nicht nach Wunſch gieng, aß er Glas, und ſtarb dran. — Das iſt vortreflich, ſagte Sieg- wart, wir wollen das Stuͤck noch einmal ſpielen! Sie ſpieltens wieder. — Bey einem Quatuor von Boccherini verſank er wieder in die tiefſte Schwer- muth, in der er den ganzen Abend blieb. — Die ganze Woche ſtrich ihm traurig hin. Die Unruhe uͤber die Krankheit ſeines Vaters verdrang das Bild des Maͤdchens etwas aus ſeinem Herzen, oder uͤberzog es vielmehr nur mit einer Art von Schley- er. Oft ſtand es wieder frey, und in allem ſeinem Reiz vor ihm da. Er lief alle Straſſen der Stadt durch, ob er ſein geliebtes Maͤdchen nirgends ent- decke? Aber nirgend ſah ers. Jn die Kirchen konnte er die Woche uͤber nicht gehen, weil er ſeine Kollegia gewiſſenhaft beſuchte. Er und Kronhelm machten nun eine traurige Figur zuſammen. Kei- ner konnte den andern troͤſten. Sie weideten ſich an ihrem wechſelſeitigen Schmerz, und vereinigten ihre Klagen, obwol Siegwart viel zu furchtſam

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 573. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/153>, abgerufen am 23.04.2024.