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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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ist, ist es dann nicht Weisheit, der Welt so viel
abzusterben, als man kann und darf? Du verstehst
mich; der Eintritt ins Kloster ist ein Bild des
Todes. Dürft' ich ihn doch morgen thun! etc.

Dießmal war das Konzert auf Kronhelms Zim-
mer. Siegwart spielte nicht mit, sondern saß in
einem Winkel, und weinte. Seine Phantasie ward
durch die Musik aufs äusserste gespannt. Zuwei-
len irrte er durch Nacht und Gräber; sah sei-
nen Vater mit dem Tode ringen, schauerte zurück,
und stand hastig auf. Dann ward er wieder in
das süsse, heilige Gefühl der Liebe versenkt; sah
sein andächtiges Mädchen vor dem Altar knien;
sah sie wehmüthig und traurig; bildete sich ein, sie
lächl' ihm zu. -- Dann schwand sie ihm wieder
aus den Augen. Er sah kein Mittel, sie jemals
zu sprechen. Jch werde sie nie, nie sehen! dachte
er. Sie flieht mich; sie muß mich verachten; Jch
bin nichts, gar nichts gegen sie! Sie ist ein En-
gel, und ich bin ein Sünder, ein Verworfener!
O warum hab ich sie gesehen? Warum all mei-
ne Ruhe so auf Einmal verlohren?

Plötzlich ward er aufmerksam, als eine wild-
schwärmerische Symphonie von Fils gespielt wurde.



iſt, iſt es dann nicht Weisheit, der Welt ſo viel
abzuſterben, als man kann und darf? Du verſtehſt
mich; der Eintritt ins Kloſter iſt ein Bild des
Todes. Duͤrft’ ich ihn doch morgen thun! ꝛc.

Dießmal war das Konzert auf Kronhelms Zim-
mer. Siegwart ſpielte nicht mit, ſondern ſaß in
einem Winkel, und weinte. Seine Phantaſie ward
durch die Muſik aufs aͤuſſerſte geſpannt. Zuwei-
len irrte er durch Nacht und Graͤber; ſah ſei-
nen Vater mit dem Tode ringen, ſchauerte zuruͤck,
und ſtand haſtig auf. Dann ward er wieder in
das ſuͤſſe, heilige Gefuͤhl der Liebe verſenkt; ſah
ſein andaͤchtiges Maͤdchen vor dem Altar knien;
ſah ſie wehmuͤthig und traurig; bildete ſich ein, ſie
laͤchl’ ihm zu. — Dann ſchwand ſie ihm wieder
aus den Augen. Er ſah kein Mittel, ſie jemals
zu ſprechen. Jch werde ſie nie, nie ſehen! dachte
er. Sie flieht mich; ſie muß mich verachten; Jch
bin nichts, gar nichts gegen ſie! Sie iſt ein En-
gel, und ich bin ein Suͤnder, ein Verworfener!
O warum hab ich ſie geſehen? Warum all mei-
ne Ruhe ſo auf Einmal verlohren?

Ploͤtzlich ward er aufmerkſam, als eine wild-
ſchwaͤrmeriſche Symphonie von Fils geſpielt wurde.

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[572/0152] iſt, iſt es dann nicht Weisheit, der Welt ſo viel abzuſterben, als man kann und darf? Du verſtehſt mich; der Eintritt ins Kloſter iſt ein Bild des Todes. Duͤrft’ ich ihn doch morgen thun! ꝛc. Dießmal war das Konzert auf Kronhelms Zim- mer. Siegwart ſpielte nicht mit, ſondern ſaß in einem Winkel, und weinte. Seine Phantaſie ward durch die Muſik aufs aͤuſſerſte geſpannt. Zuwei- len irrte er durch Nacht und Graͤber; ſah ſei- nen Vater mit dem Tode ringen, ſchauerte zuruͤck, und ſtand haſtig auf. Dann ward er wieder in das ſuͤſſe, heilige Gefuͤhl der Liebe verſenkt; ſah ſein andaͤchtiges Maͤdchen vor dem Altar knien; ſah ſie wehmuͤthig und traurig; bildete ſich ein, ſie laͤchl’ ihm zu. — Dann ſchwand ſie ihm wieder aus den Augen. Er ſah kein Mittel, ſie jemals zu ſprechen. Jch werde ſie nie, nie ſehen! dachte er. Sie flieht mich; ſie muß mich verachten; Jch bin nichts, gar nichts gegen ſie! Sie iſt ein En- gel, und ich bin ein Suͤnder, ein Verworfener! O warum hab ich ſie geſehen? Warum all mei- ne Ruhe ſo auf Einmal verlohren? Ploͤtzlich ward er aufmerkſam, als eine wild- ſchwaͤrmeriſche Symphonie von Fils geſpielt wurde.

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 572. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/152>, abgerufen am 24.04.2024.