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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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Jch schäme mich nicht meiner Liebe; aber meine
Mutter und mein Vater würden noch mehr trau-
ren, wenn sies wüsten, und dir minder gut seyn. --
Ach, du Theurer, nimm den letzten, letzten Se-
gen, den mein Herz dir gibt! Lebe fromm, und
folg mir bald nach! -- Mein Herz hat dich rein
geliebt, und keusch; ich kann ruhig sterben, denn
ich seh dich bald, und weine nicht mehr. -- Mei-
ne Hand wird matt ... ich kann nicht mehr
schreiben. ...

Leb wohl, komm bald! ... ich
erwarte dich ... Bin deine Braut
Sophie.



Siegwart blieb einen halben Tag eingeschlossen,
um das Tagebuch, von dem dieses nur einige ab-
gerißne Stücke sind, zu lesen. Er las es mit un-
unterbrochner Rührung durch, und hörte fast nie-
mals auf zu weinen. Nun klärte sich ihm auf Ein-
mal so vieles auf, was ihm in Sophiens Betra-
gen so sonderbar und unbegreiflich vorgekommen
war, denn er dachte zu bescheiden von sich selbst,
als daß er Liebe gegen ihn für die Ursache davon
hätte halten sollen. Anfangs machte ihm sein zar-
tes Herz Vorwürfe, daß sie seinetwillen so viel aus-
gestanden hatte; als er aber über sein Betragen



Jch ſchaͤme mich nicht meiner Liebe; aber meine
Mutter und mein Vater wuͤrden noch mehr trau-
ren, wenn ſies wuͤſten, und dir minder gut ſeyn. —
Ach, du Theurer, nimm den letzten, letzten Se-
gen, den mein Herz dir gibt! Lebe fromm, und
folg mir bald nach! — Mein Herz hat dich rein
geliebt, und keuſch; ich kann ruhig ſterben, denn
ich ſeh dich bald, und weine nicht mehr. — Mei-
ne Hand wird matt … ich kann nicht mehr
ſchreiben. …

Leb wohl, komm bald! … ich
erwarte dich … Bin deine Braut
Sophie.



Siegwart blieb einen halben Tag eingeſchloſſen,
um das Tagebuch, von dem dieſes nur einige ab-
gerißne Stuͤcke ſind, zu leſen. Er las es mit un-
unterbrochner Ruͤhrung durch, und hoͤrte faſt nie-
mals auf zu weinen. Nun klaͤrte ſich ihm auf Ein-
mal ſo vieles auf, was ihm in Sophiens Betra-
gen ſo ſonderbar und unbegreiflich vorgekommen
war, denn er dachte zu beſcheiden von ſich ſelbſt,
als daß er Liebe gegen ihn fuͤr die Urſache davon
haͤtte halten ſollen. Anfangs machte ihm ſein zar-
tes Herz Vorwuͤrfe, daß ſie ſeinetwillen ſo viel aus-
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[532/0112] Jch ſchaͤme mich nicht meiner Liebe; aber meine Mutter und mein Vater wuͤrden noch mehr trau- ren, wenn ſies wuͤſten, und dir minder gut ſeyn. — Ach, du Theurer, nimm den letzten, letzten Se- gen, den mein Herz dir gibt! Lebe fromm, und folg mir bald nach! — Mein Herz hat dich rein geliebt, und keuſch; ich kann ruhig ſterben, denn ich ſeh dich bald, und weine nicht mehr. — Mei- ne Hand wird matt … ich kann nicht mehr ſchreiben. … Leb wohl, komm bald! … ich erwarte dich … Bin deine Braut Sophie. Siegwart blieb einen halben Tag eingeſchloſſen, um das Tagebuch, von dem dieſes nur einige ab- gerißne Stuͤcke ſind, zu leſen. Er las es mit un- unterbrochner Ruͤhrung durch, und hoͤrte faſt nie- mals auf zu weinen. Nun klaͤrte ſich ihm auf Ein- mal ſo vieles auf, was ihm in Sophiens Betra- gen ſo ſonderbar und unbegreiflich vorgekommen war, denn er dachte zu beſcheiden von ſich ſelbſt, als daß er Liebe gegen ihn fuͤr die Urſache davon haͤtte halten ſollen. Anfangs machte ihm ſein zar- tes Herz Vorwuͤrfe, daß ſie ſeinetwillen ſo viel aus- geſtanden hatte; als er aber uͤber ſein Betragen

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 532. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/112>, abgerufen am 28.03.2024.