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Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776.

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als die Welt dich fesseln wollte; als die Mutter
weinte, und dir zeigte alle Reize dieses Lebens;
als Hilaria dich binden wollte mit dem Band der
Liebe -- wie du da, du mehr als Thomas, nie-
dersahst mit hohem Aug auf alle goldne Fesseln;
wie du blicktest nach dem Palmenzweig im Him-
mel; ihn ergriffest mit entschlossener Hand! durch
alle Reizungen hinweggiengst nach dem Sitz des
Friedens und der Ruhe!

Oefne dich, o Zelle, daß ich eingeh, wie mein
Auserwählter, an den Ort der Stille, wo gerei-
nigt wird das Herz, und geheiliget zur Braut des
Himmels! Folg mir nach, o Bild des Auser-
wählten, den ich bald zum letztenmal erblicke, bis
wir uns begegnen in den Thälern Edens! -- Hei-
liger Thomas, dessen Bild mein Auserwählter ist,
bald erblick ich dich mit ihm, und singe Siegeslie-
der! -- Wenig Tage noch, mein Bräutigam, so
wirst du meinem Aug entrissen, denn die Zelle hat
sich aufgethan; aber meine Seele soll dich sehen,
bis ich lieg' und schlaf im Grabe.



Am 12ten November. (als sie ins Kloster ge-
treten war.)

Jch bin eingegangen in den Ort der Ruhe; aber



als die Welt dich feſſeln wollte; als die Mutter
weinte, und dir zeigte alle Reize dieſes Lebens;
als Hilaria dich binden wollte mit dem Band der
Liebe — wie du da, du mehr als Thomas, nie-
derſahſt mit hohem Aug auf alle goldne Feſſeln;
wie du blickteſt nach dem Palmenzweig im Him-
mel; ihn ergriffeſt mit entſchloſſener Hand! durch
alle Reizungen hinweggiengſt nach dem Sitz des
Friedens und der Ruhe!

Oefne dich, o Zelle, daß ich eingeh, wie mein
Auserwaͤhlter, an den Ort der Stille, wo gerei-
nigt wird das Herz, und geheiliget zur Braut des
Himmels! Folg mir nach, o Bild des Auser-
waͤhlten, den ich bald zum letztenmal erblicke, bis
wir uns begegnen in den Thaͤlern Edens! — Hei-
liger Thomas, deſſen Bild mein Auserwaͤhlter iſt,
bald erblick ich dich mit ihm, und ſinge Siegeslie-
der! — Wenig Tage noch, mein Braͤutigam, ſo
wirſt du meinem Aug entriſſen, denn die Zelle hat
ſich aufgethan; aber meine Seele ſoll dich ſehen,
bis ich lieg’ und ſchlaf im Grabe.



Am 12ten November. (als ſie ins Kloſter ge-
treten war.)

Jch bin eingegangen in den Ort der Ruhe; aber

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[528/0108] als die Welt dich feſſeln wollte; als die Mutter weinte, und dir zeigte alle Reize dieſes Lebens; als Hilaria dich binden wollte mit dem Band der Liebe — wie du da, du mehr als Thomas, nie- derſahſt mit hohem Aug auf alle goldne Feſſeln; wie du blickteſt nach dem Palmenzweig im Him- mel; ihn ergriffeſt mit entſchloſſener Hand! durch alle Reizungen hinweggiengſt nach dem Sitz des Friedens und der Ruhe! Oefne dich, o Zelle, daß ich eingeh, wie mein Auserwaͤhlter, an den Ort der Stille, wo gerei- nigt wird das Herz, und geheiliget zur Braut des Himmels! Folg mir nach, o Bild des Auser- waͤhlten, den ich bald zum letztenmal erblicke, bis wir uns begegnen in den Thaͤlern Edens! — Hei- liger Thomas, deſſen Bild mein Auserwaͤhlter iſt, bald erblick ich dich mit ihm, und ſinge Siegeslie- der! — Wenig Tage noch, mein Braͤutigam, ſo wirſt du meinem Aug entriſſen, denn die Zelle hat ſich aufgethan; aber meine Seele ſoll dich ſehen, bis ich lieg’ und ſchlaf im Grabe. Am 12ten November. (als ſie ins Kloſter ge- treten war.) Jch bin eingegangen in den Ort der Ruhe; aber

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Zitationshilfe: Miller, Johann Martin: Siegwart. Bd. 2. Leipzig, 1776, S. 528. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/miller_siegwart02_1776/108>, abgerufen am 19.04.2024.