Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

Bild:
<< vorherige Seite

Als sie die steile Römergasse hinunter schritten,
kam ihnen gestiefelt und gespornt ein stark gebauter
imponirender Herr entgegen.

"Hab' ich Dich endlich, Lucrezchen!" sagte er, das
Kind auf den Arm nehmend und heftig küssend. "Was
fiel Dir ein, mir zu entspringen, Kröte!"

Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne
das Mädchen aus den Armen zu lassen, wandte er sich
mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne
Anmuth gegen Semmler und sagte in fließendem, doch
etwas fremdartig ausgesprochenem Deutsch: "Ihr habt
seltsamen Besuch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬
fessor! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags
durch meinen Wildfang."

Semmler betheuerte, daß es ihm zur besondern
Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch
sie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben.
"Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr," schloß er,
"eine bescheidene Mittagssuppe mit mir und meiner
lieben Ehefrau zu theilen."

Der Freiherr willigte ein, ohne sich bitten zu lassen
und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Verschwinden
spät bemerkt, dann aber gleich sich aufs Pferd geworfen
und die Reisende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur
verfolgt habe. Er erzählte weiter, er besitze in Rappers¬

2*

Als ſie die ſteile Römergaſſe hinunter ſchritten,
kam ihnen geſtiefelt und geſpornt ein ſtark gebauter
imponirender Herr entgegen.

„Hab' ich Dich endlich, Lucrezchen!“ ſagte er, das
Kind auf den Arm nehmend und heftig küſſend. „Was
fiel Dir ein, mir zu entſpringen, Kröte!“

Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne
das Mädchen aus den Armen zu laſſen, wandte er ſich
mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne
Anmuth gegen Semmler und ſagte in fließendem, doch
etwas fremdartig ausgeſprochenem Deutſch: „Ihr habt
ſeltſamen Beſuch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬
feſſor! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags
durch meinen Wildfang.“

Semmler betheuerte, daß es ihm zur beſondern
Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch
ſie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben.
„Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr,“ ſchloß er,
„eine beſcheidene Mittagsſuppe mit mir und meiner
lieben Ehefrau zu theilen.“

Der Freiherr willigte ein, ohne ſich bitten zu laſſen
und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Verſchwinden
ſpät bemerkt, dann aber gleich ſich aufs Pferd geworfen
und die Reiſende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur
verfolgt habe. Er erzählte weiter, er beſitze in Rappers¬

2*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0029" n="19"/>
          <p>Als &#x017F;ie die &#x017F;teile Römerga&#x017F;&#x017F;e hinunter &#x017F;chritten,<lb/>
kam ihnen ge&#x017F;tiefelt und ge&#x017F;pornt ein &#x017F;tark gebauter<lb/>
imponirender Herr entgegen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Hab' ich Dich endlich, Lucrezchen!&#x201C; &#x017F;agte er, das<lb/>
Kind auf den Arm nehmend und heftig kü&#x017F;&#x017F;end. &#x201E;Was<lb/>
fiel Dir ein, mir zu ent&#x017F;pringen, Kröte!&#x201C;</p><lb/>
          <p>Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne<lb/>
das Mädchen aus den Armen zu la&#x017F;&#x017F;en, wandte er &#x017F;ich<lb/>
mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne<lb/>
Anmuth gegen Semmler und &#x017F;agte in fließendem, doch<lb/>
etwas fremdartig ausge&#x017F;prochenem Deut&#x017F;ch: &#x201E;Ihr habt<lb/>
&#x017F;elt&#x017F;amen Be&#x017F;uch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬<lb/>
fe&#x017F;&#x017F;or! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags<lb/>
durch meinen Wildfang.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Semmler betheuerte, daß es ihm zur be&#x017F;ondern<lb/>
Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch<lb/>
&#x017F;ie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben.<lb/>
&#x201E;Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr,&#x201C; &#x017F;chloß er,<lb/>
&#x201E;eine be&#x017F;cheidene Mittags&#x017F;uppe mit mir und meiner<lb/>
lieben Ehefrau zu theilen.&#x201C;</p><lb/>
          <p>Der Freiherr willigte ein, ohne &#x017F;ich bitten zu la&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Ver&#x017F;chwinden<lb/>
&#x017F;pät bemerkt, dann aber gleich &#x017F;ich aufs Pferd geworfen<lb/>
und die Rei&#x017F;ende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur<lb/>
verfolgt habe. Er erzählte weiter, er be&#x017F;itze in Rappers¬<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">2*<lb/></fw>
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[19/0029] Als ſie die ſteile Römergaſſe hinunter ſchritten, kam ihnen geſtiefelt und geſpornt ein ſtark gebauter imponirender Herr entgegen. „Hab' ich Dich endlich, Lucrezchen!“ ſagte er, das Kind auf den Arm nehmend und heftig küſſend. „Was fiel Dir ein, mir zu entſpringen, Kröte!“ Dann, ohne eine Antwort zu erwarten und ohne das Mädchen aus den Armen zu laſſen, wandte er ſich mit einer nur leichten Verbeugung, aber nicht ohne Anmuth gegen Semmler und ſagte in fließendem, doch etwas fremdartig ausgeſprochenem Deutſch: „Ihr habt ſeltſamen Beſuch in Eurer Schule erhalten, Herr Pro¬ feſſor! Verzeiht die Störung Eures gelehrten Vortrags durch meinen Wildfang.“ Semmler betheuerte, daß es ihm zur beſondern Freude und Ehre gereiche, das junge Fräulein und durch ſie den edeln Herrn Vater kennen gelernt zu haben. „Thut mir die Ehre an, hochmögender Herr,“ ſchloß er, „eine beſcheidene Mittagsſuppe mit mir und meiner lieben Ehefrau zu theilen.“ Der Freiherr willigte ein, ohne ſich bitten zu laſſen und erzählte unterwegs, wie er Lucretia's Verſchwinden ſpät bemerkt, dann aber gleich ſich aufs Pferd geworfen und die Reiſende mit Leichtigkeit von Spur zu Spur verfolgt habe. Er erzählte weiter, er beſitze in Rappers¬ 2*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/29
Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. 19. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/29>, abgerufen am 24.04.2024.