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Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876.

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Erstes Kapitel.

Die Mittagssonne stand über der kahlen, von Fels¬
häuptern umragten Höhe des Julierpasses im Lande
Bünden. Die Steinwände brannten und schimmerten
unter den stechenden senkrechten Strahlen. Zuweilen,
wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüber¬
zog, schienen die Bergmauern näher heranzutreten und,
die Landschaft verengend, schroff und unheimlich zu¬
sammenzurücken. Die wenigen zwischen den Felszacken
herniederhangenden Schneeflecke und Gletscherzungen
leuchteten bald grell auf, bald wichen sie zurück in
grünliches Dunkel. Es drückte eine schwüle Stille, nur
das niedrige Geflatter der Steinlerche regte sich zwischen
den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang
der scharfe Pfiff eines Murmelthiers die Einöde.

In der Mitte der sich dehnenden Paßhöhe standen
rechts und links vom Saumpfade zwei abgebrochene
Säulen, die der Zeit schon länger als ein Jahrtausend

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Erſtes Kapitel.

Die Mittagsſonne ſtand über der kahlen, von Fels¬
häuptern umragten Höhe des Julierpaſſes im Lande
Bünden. Die Steinwände brannten und ſchimmerten
unter den ſtechenden ſenkrechten Strahlen. Zuweilen,
wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüber¬
zog, ſchienen die Bergmauern näher heranzutreten und,
die Landſchaft verengend, ſchroff und unheimlich zu¬
ſammenzurücken. Die wenigen zwiſchen den Felszacken
herniederhangenden Schneeflecke und Gletſcherzungen
leuchteten bald grell auf, bald wichen ſie zurück in
grünliches Dunkel. Es drückte eine ſchwüle Stille, nur
das niedrige Geflatter der Steinlerche regte ſich zwiſchen
den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang
der ſcharfe Pfiff eines Murmelthiers die Einöde.

In der Mitte der ſich dehnenden Paßhöhe ſtanden
rechts und links vom Saumpfade zwei abgebrochene
Säulen, die der Zeit ſchon länger als ein Jahrtauſend

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[0013] Erſtes Kapitel. Die Mittagsſonne ſtand über der kahlen, von Fels¬ häuptern umragten Höhe des Julierpaſſes im Lande Bünden. Die Steinwände brannten und ſchimmerten unter den ſtechenden ſenkrechten Strahlen. Zuweilen, wenn eine geballte Wetterwolke emporquoll und vorüber¬ zog, ſchienen die Bergmauern näher heranzutreten und, die Landſchaft verengend, ſchroff und unheimlich zu¬ ſammenzurücken. Die wenigen zwiſchen den Felszacken herniederhangenden Schneeflecke und Gletſcherzungen leuchteten bald grell auf, bald wichen ſie zurück in grünliches Dunkel. Es drückte eine ſchwüle Stille, nur das niedrige Geflatter der Steinlerche regte ſich zwiſchen den nackten Blöcken und von Zeit zu Zeit durchdrang der ſcharfe Pfiff eines Murmelthiers die Einöde. In der Mitte der ſich dehnenden Paßhöhe ſtanden rechts und links vom Saumpfade zwei abgebrochene Säulen, die der Zeit ſchon länger als ein Jahrtauſend 1*

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Zitationshilfe: Meyer, Conrad Ferdinand: Georg Jenatsch. Leipzig, 1876, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meyer_jenatsch_1876/13>, abgerufen am 29.03.2024.