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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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Neuwiedt etc. An Reisen in alle Gegenden Europas
und unsers Deutschlands selbst sind wir aber über¬
reich. Nur müssen wir bekennen, daß die Mehrzahl
dieser Reisebeschreibungen etwas abgeschmackt ist. Der
systematische Deutsche hat auch die fremden Merk¬
würdigkeiten unter ein gewisses System gebracht, und
einen orbis pictus davon angefertigt, den alle neuen
Reisenden immer wieder von vorn durchblättern, wie
Kinder. Doch haben in der neuesten Zeit theils
Wißbegier in allen möglichen Fächern, theils die
Lust am Neuen eine große Menge Reisende für die
verschiedensten Zwecke auf bisher weniger betretne
Wege geführt.

Die Medicin erfreut sich einer unermeßlichen
Literatur, die sich leider noch in keine Bibel hat zu¬
sammenziehn lassen. Confessionen, Sekten zählt sie
genug, und wie sich die theologischen am Ende doch
im Glauben vereinigen, so vereinigen sich die medi¬
cinischen höchstens im Unglauben. Nirgends herrscht
so viel Verwirrung und Widerspruch unter den ent¬
gegengesetzten Parteien, nirgends so viel Unsicherheit
in jeder Partei selbst. Wie sich die Vernunft zur
Noth berechnen läßt, die Dummheit aber nie, so läßt
der gesunde Zustand des Körpers, aber nicht der
kranke sich berechnen. Dies ist die gefährliche Klip¬
pe, woran das consequenteste System und die längste
Erfahrung noch immer gescheitert sind.

Der Mensch hat die Natur von außen in ihren
unermeßlichen Räumen nnd Massen bezwungen, nur

Neuwiedt ꝛc. An Reiſen in alle Gegenden Europas
und unſers Deutſchlands ſelbſt ſind wir aber uͤber¬
reich. Nur muͤſſen wir bekennen, daß die Mehrzahl
dieſer Reiſebeſchreibungen etwas abgeſchmackt iſt. Der
ſyſtematiſche Deutſche hat auch die fremden Merk¬
wuͤrdigkeiten unter ein gewiſſes Syſtem gebracht, und
einen orbis pictus davon angefertigt, den alle neuen
Reiſenden immer wieder von vorn durchblaͤttern, wie
Kinder. Doch haben in der neueſten Zeit theils
Wißbegier in allen moͤglichen Faͤchern, theils die
Luſt am Neuen eine große Menge Reiſende fuͤr die
verſchiedenſten Zwecke auf bisher weniger betretne
Wege gefuͤhrt.

Die Medicin erfreut ſich einer unermeßlichen
Literatur, die ſich leider noch in keine Bibel hat zu¬
ſammenziehn laſſen. Confeſſionen, Sekten zaͤhlt ſie
genug, und wie ſich die theologiſchen am Ende doch
im Glauben vereinigen, ſo vereinigen ſich die medi¬
ciniſchen hoͤchſtens im Unglauben. Nirgends herrſcht
ſo viel Verwirrung und Widerſpruch unter den ent¬
gegengeſetzten Parteien, nirgends ſo viel Unſicherheit
in jeder Partei ſelbſt. Wie ſich die Vernunft zur
Noth berechnen laͤßt, die Dummheit aber nie, ſo laͤßt
der geſunde Zuſtand des Koͤrpers, aber nicht der
kranke ſich berechnen. Dies iſt die gefaͤhrliche Klip¬
pe, woran das conſequenteſte Syſtem und die laͤngſte
Erfahrung noch immer geſcheitert ſind.

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[28/0038] Neuwiedt ꝛc. An Reiſen in alle Gegenden Europas und unſers Deutſchlands ſelbſt ſind wir aber uͤber¬ reich. Nur muͤſſen wir bekennen, daß die Mehrzahl dieſer Reiſebeſchreibungen etwas abgeſchmackt iſt. Der ſyſtematiſche Deutſche hat auch die fremden Merk¬ wuͤrdigkeiten unter ein gewiſſes Syſtem gebracht, und einen orbis pictus davon angefertigt, den alle neuen Reiſenden immer wieder von vorn durchblaͤttern, wie Kinder. Doch haben in der neueſten Zeit theils Wißbegier in allen moͤglichen Faͤchern, theils die Luſt am Neuen eine große Menge Reiſende fuͤr die verſchiedenſten Zwecke auf bisher weniger betretne Wege gefuͤhrt. Die Medicin erfreut ſich einer unermeßlichen Literatur, die ſich leider noch in keine Bibel hat zu¬ ſammenziehn laſſen. Confeſſionen, Sekten zaͤhlt ſie genug, und wie ſich die theologiſchen am Ende doch im Glauben vereinigen, ſo vereinigen ſich die medi¬ ciniſchen hoͤchſtens im Unglauben. Nirgends herrſcht ſo viel Verwirrung und Widerſpruch unter den ent¬ gegengeſetzten Parteien, nirgends ſo viel Unſicherheit in jeder Partei ſelbſt. Wie ſich die Vernunft zur Noth berechnen laͤßt, die Dummheit aber nie, ſo laͤßt der geſunde Zuſtand des Koͤrpers, aber nicht der kranke ſich berechnen. Dies iſt die gefaͤhrliche Klip¬ pe, woran das conſequenteſte Syſtem und die laͤngſte Erfahrung noch immer geſcheitert ſind. Der Menſch hat die Natur von außen in ihren unermeßlichen Raͤumen nnd Maſſen bezwungen, nur

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 28. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/38>, abgerufen am 25.04.2024.