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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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deckungen von Phänomenen, deren Ursache man nicht
kannte. Höchstens hatte man je für einzelne Zweige
der Naturwissenschaft sogenannte Principe gesucht,
um in die Lehre derselben einigen Zusammenhang zu
bringen, war aber dabei sehr willkürlich verfahren,
und hatte bei der Betrachtung der einen Seite die
mancherlei übrigen Seiten nicht zu Rathe gezogen.
Man hatte hier die Mathematik oder Formenlehre
der Natur, dort die Chemie oder Stofflehre unab¬
hängig von einander behandelt und nicht gewagt,
eine auf die andre zu beziehn, wenn auch Stoff und
Form in der Natur überall zugleich erscheinen. Man
hatte hier die Astronomie, dort die Physiologie für
sich durchzubilden unternommen, aber wem fiel es
ein, im menschlichen Makrokosmus den Mokrokosmus
nachzusuchen? Man hatte die Botanik studirt, ohne
ihr Wechselverhältniß zur Zoologie zu ahnen, und
beide für sich verfolgt, ohne sie auf den Typus des
menschlichen Organismus zurückzuführen. Auf der
andern Seite gab es allerdings Ahnungen über die
eine, untheilbare, alles bewegende Seele der Natur,
aber es waren nur unvollkommene Erinnerungen aus
mythologisch gewordenen Philosophen der alten Welt
oder verrufenen Theosophen und Pantheisten der spä¬
tern Zeit, denen es zuweilen an nichts fehlte, als
an der empirischen Erprobung ihres Systems, was
aber freilich im wissenschaftlichem Sinne so viel als
alles war. Jeder neue Naturphilosoph, der es wagte,
ein Gesetz im Ganzen der Natur nachzuweisen, mußte

deckungen von Phaͤnomenen, deren Urſache man nicht
kannte. Hoͤchſtens hatte man je fuͤr einzelne Zweige
der Naturwiſſenſchaft ſogenannte Principe geſucht,
um in die Lehre derſelben einigen Zuſammenhang zu
bringen, war aber dabei ſehr willkuͤrlich verfahren,
und hatte bei der Betrachtung der einen Seite die
mancherlei uͤbrigen Seiten nicht zu Rathe gezogen.
Man hatte hier die Mathematik oder Formenlehre
der Natur, dort die Chemie oder Stofflehre unab¬
haͤngig von einander behandelt und nicht gewagt,
eine auf die andre zu beziehn, wenn auch Stoff und
Form in der Natur uͤberall zugleich erſcheinen. Man
hatte hier die Aſtronomie, dort die Phyſiologie fuͤr
ſich durchzubilden unternommen, aber wem fiel es
ein, im menſchlichen Makrokosmus den Mokrokosmus
nachzuſuchen? Man hatte die Botanik ſtudirt, ohne
ihr Wechſelverhaͤltniß zur Zoologie zu ahnen, und
beide fuͤr ſich verfolgt, ohne ſie auf den Typus des
menſchlichen Organismus zuruͤckzufuͤhren. Auf der
andern Seite gab es allerdings Ahnungen uͤber die
eine, untheilbare, alles bewegende Seele der Natur,
aber es waren nur unvollkommene Erinnerungen aus
mythologiſch gewordenen Philoſophen der alten Welt
oder verrufenen Theoſophen und Pantheiſten der ſpaͤ¬
tern Zeit, denen es zuweilen an nichts fehlte, als
an der empiriſchen Erprobung ihres Syſtems, was
aber freilich im wiſſenſchaftlichem Sinne ſo viel als
alles war. Jeder neue Naturphiloſoph, der es wagte,
ein Geſetz im Ganzen der Natur nachzuweiſen, mußte

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[12/0022] deckungen von Phaͤnomenen, deren Urſache man nicht kannte. Hoͤchſtens hatte man je fuͤr einzelne Zweige der Naturwiſſenſchaft ſogenannte Principe geſucht, um in die Lehre derſelben einigen Zuſammenhang zu bringen, war aber dabei ſehr willkuͤrlich verfahren, und hatte bei der Betrachtung der einen Seite die mancherlei uͤbrigen Seiten nicht zu Rathe gezogen. Man hatte hier die Mathematik oder Formenlehre der Natur, dort die Chemie oder Stofflehre unab¬ haͤngig von einander behandelt und nicht gewagt, eine auf die andre zu beziehn, wenn auch Stoff und Form in der Natur uͤberall zugleich erſcheinen. Man hatte hier die Aſtronomie, dort die Phyſiologie fuͤr ſich durchzubilden unternommen, aber wem fiel es ein, im menſchlichen Makrokosmus den Mokrokosmus nachzuſuchen? Man hatte die Botanik ſtudirt, ohne ihr Wechſelverhaͤltniß zur Zoologie zu ahnen, und beide fuͤr ſich verfolgt, ohne ſie auf den Typus des menſchlichen Organismus zuruͤckzufuͤhren. Auf der andern Seite gab es allerdings Ahnungen uͤber die eine, untheilbare, alles bewegende Seele der Natur, aber es waren nur unvollkommene Erinnerungen aus mythologiſch gewordenen Philoſophen der alten Welt oder verrufenen Theoſophen und Pantheiſten der ſpaͤ¬ tern Zeit, denen es zuweilen an nichts fehlte, als an der empiriſchen Erprobung ihres Syſtems, was aber freilich im wiſſenſchaftlichem Sinne ſo viel als alles war. Jeder neue Naturphiloſoph, der es wagte, ein Geſetz im Ganzen der Natur nachzuweiſen, mußte

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/22>, abgerufen am 25.04.2024.