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Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828.

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schaft innerhalb derselben möglich und wirklich. So
weit unsre Wahrnehmung unter den subjectiven Be¬
dingungen unsrer Sinne und unsres Geistes reicht,
ist ihr die Natur nicht verschlossen und bleibt sich
immer gleich, so daß wir allmählich ihren Umfang in
den vorgeschriebnen Gränzen, so wie ihre ewige Ge¬
setzmäßigkeit erkennen und die Wahrnehmung zur voll¬
endeten Wissenschaft erheben können. Das Hemmende
für diese Wissenschaft ist nicht mehr das menschliche
Unvermögen, sondern nur die Mannigfaltigkeit des
Stoffes und die Langsamkeit, mit welcher theils un¬
ser Organ für die Wahrnehmung geschärft, theils
das Wahrgenommene combinirt wird. Erst mußten
mechanische Erfindungen unsern Sinnen ein höheres
Wahrnehmungsvermögen verleihen; wir mußten uns
mit Teleskopen und Mikroskopen, mit Meßtisch und
Compaß bewaffnen, ehe wir die Hindernisse des Rau¬
mes überwinden konnten, und wir mußten die chemi¬
schen Apparate der Natur entdecken, womit sie sich
selbst in ihre Bestandtheile auflöst, bevor wir in das
Geheimniß ihrer Werkstätte zu dringen vermochten.
Sodann mußte Jahrhunderte lang ein emsiges Ge¬
schlecht die Oberfläche und die Tiefe der Erde durch¬
fahren, um die Schätze der Natur zu sammeln, und
ein langer Fleiß mußte diese ordnen, bevor geniale
Geister die Combinationen derselben entdeckten.

Zwar gab es schon lange vorher eine Naturphi¬
losophie, denn von jeher strebte der menschliche Geist,
im Zerstreuten und Mannigfaltigen die Einheit zu

ſchaft innerhalb derſelben moͤglich und wirklich. So
weit unſre Wahrnehmung unter den ſubjectiven Be¬
dingungen unſrer Sinne und unſres Geiſtes reicht,
iſt ihr die Natur nicht verſchloſſen und bleibt ſich
immer gleich, ſo daß wir allmaͤhlich ihren Umfang in
den vorgeſchriebnen Graͤnzen, ſo wie ihre ewige Ge¬
ſetzmaͤßigkeit erkennen und die Wahrnehmung zur voll¬
endeten Wiſſenſchaft erheben koͤnnen. Das Hemmende
fuͤr dieſe Wiſſenſchaft iſt nicht mehr das menſchliche
Unvermoͤgen, ſondern nur die Mannigfaltigkeit des
Stoffes und die Langſamkeit, mit welcher theils un¬
ſer Organ fuͤr die Wahrnehmung geſchaͤrft, theils
das Wahrgenommene combinirt wird. Erſt mußten
mechaniſche Erfindungen unſern Sinnen ein hoͤheres
Wahrnehmungsvermoͤgen verleihen; wir mußten uns
mit Teleſkopen und Mikroſkopen, mit Meßtiſch und
Compaß bewaffnen, ehe wir die Hinderniſſe des Rau¬
mes uͤberwinden konnten, und wir mußten die chemi¬
ſchen Apparate der Natur entdecken, womit ſie ſich
ſelbſt in ihre Beſtandtheile aufloͤſt, bevor wir in das
Geheimniß ihrer Werkſtaͤtte zu dringen vermochten.
Sodann mußte Jahrhunderte lang ein emſiges Ge¬
ſchlecht die Oberflaͤche und die Tiefe der Erde durch¬
fahren, um die Schaͤtze der Natur zu ſammeln, und
ein langer Fleiß mußte dieſe ordnen, bevor geniale
Geiſter die Combinationen derſelben entdeckten.

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[10/0020] ſchaft innerhalb derſelben moͤglich und wirklich. So weit unſre Wahrnehmung unter den ſubjectiven Be¬ dingungen unſrer Sinne und unſres Geiſtes reicht, iſt ihr die Natur nicht verſchloſſen und bleibt ſich immer gleich, ſo daß wir allmaͤhlich ihren Umfang in den vorgeſchriebnen Graͤnzen, ſo wie ihre ewige Ge¬ ſetzmaͤßigkeit erkennen und die Wahrnehmung zur voll¬ endeten Wiſſenſchaft erheben koͤnnen. Das Hemmende fuͤr dieſe Wiſſenſchaft iſt nicht mehr das menſchliche Unvermoͤgen, ſondern nur die Mannigfaltigkeit des Stoffes und die Langſamkeit, mit welcher theils un¬ ſer Organ fuͤr die Wahrnehmung geſchaͤrft, theils das Wahrgenommene combinirt wird. Erſt mußten mechaniſche Erfindungen unſern Sinnen ein hoͤheres Wahrnehmungsvermoͤgen verleihen; wir mußten uns mit Teleſkopen und Mikroſkopen, mit Meßtiſch und Compaß bewaffnen, ehe wir die Hinderniſſe des Rau¬ mes uͤberwinden konnten, und wir mußten die chemi¬ ſchen Apparate der Natur entdecken, womit ſie ſich ſelbſt in ihre Beſtandtheile aufloͤſt, bevor wir in das Geheimniß ihrer Werkſtaͤtte zu dringen vermochten. Sodann mußte Jahrhunderte lang ein emſiges Ge¬ ſchlecht die Oberflaͤche und die Tiefe der Erde durch¬ fahren, um die Schaͤtze der Natur zu ſammeln, und ein langer Fleiß mußte dieſe ordnen, bevor geniale Geiſter die Combinationen derſelben entdeckten. Zwar gab es ſchon lange vorher eine Naturphi¬ loſophie, denn von jeher ſtrebte der menſchliche Geiſt, im Zerſtreuten und Mannigfaltigen die Einheit zu

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Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 2. Stuttgart, 1828, S. 10. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur02_1828/20>, abgerufen am 28.03.2024.