Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828.

Bild:
<< vorherige Seite

werth gewesen; doch keiner gebe seinen Geist dem
Buchstaben gefangen.

Die frühern Geschlechter erkannten die große Be¬
deutung der Literatur noch nicht, da sie, zu sehr dem
Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben,
sich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als
sich im Spiegel derselben suchten. Die neuere Zeit
ist beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und
der Mensch stiehlt sich gleichsam aus seiner Gegen¬
wart heraus, um sich in eine fremde Welt zu verse¬
tzen, und übertäubt sich mit den Wundern, die seine
Neugier um ihn versammelt. Damals lebte man mehr,
jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬
tur hat ein Interesse auf sich gezogen und eine Wirk¬
samkeit erlangt, die den frühern Zeiten unbekannt
war. Die Erfindung der Buchdruckerkunst hat ihr
eine materielle Basis gegeben, von welcher aus sie
ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem
ist sie eine europäische Macht geworden, theils herr¬
schend über alle, theils dienend allen. Sie hat der
Geister sich bemächtigt durch das Wort, das Leben
beherrscht durch das Bild des Lebens, aber zugleich
jedem Streben des Zeitalters ein gefälliges Werk¬
zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder sein
Votum eingetragen. Sie ist ein Schild der Gerech¬
tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein
Paradies der Unschuld, ein Wonnebecher der Liebe,
eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬
mige Waffe dem Parteigeist, ein Spielzeug der Tän¬

werth geweſen; doch keiner gebe ſeinen Geiſt dem
Buchſtaben gefangen.

Die fruͤhern Geſchlechter erkannten die große Be¬
deutung der Literatur noch nicht, da ſie, zu ſehr dem
Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben,
ſich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als
ſich im Spiegel derſelben ſuchten. Die neuere Zeit
iſt beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und
der Menſch ſtiehlt ſich gleichſam aus ſeiner Gegen¬
wart heraus, um ſich in eine fremde Welt zu verſe¬
tzen, und uͤbertaͤubt ſich mit den Wundern, die ſeine
Neugier um ihn verſammelt. Damals lebte man mehr,
jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬
tur hat ein Intereſſe auf ſich gezogen und eine Wirk¬
ſamkeit erlangt, die den fruͤhern Zeiten unbekannt
war. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt hat ihr
eine materielle Baſis gegeben, von welcher aus ſie
ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem
iſt ſie eine europaͤiſche Macht geworden, theils herr¬
ſchend uͤber alle, theils dienend allen. Sie hat der
Geiſter ſich bemaͤchtigt durch das Wort, das Leben
beherrſcht durch das Bild des Lebens, aber zugleich
jedem Streben des Zeitalters ein gefaͤlliges Werk¬
zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder ſein
Votum eingetragen. Sie iſt ein Schild der Gerech¬
tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein
Paradies der Unſchuld, ein Wonnebecher der Liebe,
eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬
mige Waffe dem Parteigeiſt, ein Spielzeug der Taͤn¬

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <p><pb facs="#f0024" n="14"/>
werth gewe&#x017F;en; doch keiner gebe &#x017F;einen Gei&#x017F;t dem<lb/>
Buch&#x017F;taben gefangen.</p><lb/>
        <p>Die fru&#x0364;hern Ge&#x017F;chlechter erkannten die große Be¬<lb/>
deutung der Literatur noch nicht, da &#x017F;ie, zu &#x017F;ehr dem<lb/>
Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben,<lb/>
&#x017F;ich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als<lb/>
&#x017F;ich im Spiegel der&#x017F;elben &#x017F;uchten. Die neuere Zeit<lb/>
i&#x017F;t beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und<lb/>
der Men&#x017F;ch &#x017F;tiehlt &#x017F;ich gleich&#x017F;am aus &#x017F;einer Gegen¬<lb/>
wart heraus, um &#x017F;ich in eine fremde Welt zu ver&#x017F;<lb/>
tzen, und u&#x0364;berta&#x0364;ubt &#x017F;ich mit den Wundern, die &#x017F;eine<lb/>
Neugier um ihn ver&#x017F;ammelt. Damals lebte man mehr,<lb/>
jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬<lb/>
tur hat ein Intere&#x017F;&#x017F;e auf &#x017F;ich gezogen und eine Wirk¬<lb/>
&#x017F;amkeit erlangt, die den fru&#x0364;hern Zeiten unbekannt<lb/>
war. Die Erfindung der Buchdruckerkun&#x017F;t hat ihr<lb/>
eine materielle Ba&#x017F;is gegeben, von welcher aus &#x017F;ie<lb/>
ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie eine europa&#x0364;i&#x017F;che Macht geworden, theils herr¬<lb/>
&#x017F;chend u&#x0364;ber alle, theils dienend allen. Sie hat der<lb/>
Gei&#x017F;ter &#x017F;ich bema&#x0364;chtigt durch das Wort, das Leben<lb/>
beherr&#x017F;cht durch das Bild des Lebens, aber zugleich<lb/>
jedem Streben des Zeitalters ein gefa&#x0364;lliges Werk¬<lb/>
zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder &#x017F;ein<lb/>
Votum eingetragen. Sie i&#x017F;t ein Schild der Gerech¬<lb/>
tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein<lb/>
Paradies der Un&#x017F;chuld, ein Wonnebecher der Liebe,<lb/>
eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬<lb/>
mige Waffe dem Parteigei&#x017F;t, ein Spielzeug der Ta&#x0364;<lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[14/0024] werth geweſen; doch keiner gebe ſeinen Geiſt dem Buchſtaben gefangen. Die fruͤhern Geſchlechter erkannten die große Be¬ deutung der Literatur noch nicht, da ſie, zu ſehr dem Genuß oder der That des Augenblicks hingegeben, ſich mehr in der Wirklichkeit der Welt verloren, als ſich im Spiegel derſelben ſuchten. Die neuere Zeit iſt beinah ins Extrem des Gegentheils gerathen, und der Menſch ſtiehlt ſich gleichſam aus ſeiner Gegen¬ wart heraus, um ſich in eine fremde Welt zu verſe¬ tzen, und uͤbertaͤubt ſich mit den Wundern, die ſeine Neugier um ihn verſammelt. Damals lebte man mehr, jetzt will man mehr das Leben erkennen. Die Litera¬ tur hat ein Intereſſe auf ſich gezogen und eine Wirk¬ ſamkeit erlangt, die den fruͤhern Zeiten unbekannt war. Die Erfindung der Buchdruckerkunſt hat ihr eine materielle Baſis gegeben, von welcher aus ſie ihre großen Operationen entwickeln konnte. Seitdem iſt ſie eine europaͤiſche Macht geworden, theils herr¬ ſchend uͤber alle, theils dienend allen. Sie hat der Geiſter ſich bemaͤchtigt durch das Wort, das Leben beherrſcht durch das Bild des Lebens, aber zugleich jedem Streben des Zeitalters ein gefaͤlliges Werk¬ zeug dargeboten. In ihr goldnes Buch hat jeder ſein Votum eingetragen. Sie iſt ein Schild der Gerech¬ tigkeit und Tugend, ein Tempel der Weisheit, ein Paradies der Unſchuld, ein Wonnebecher der Liebe, eine Himmelsleiter dem Dichter, aber auch eine grim¬ mige Waffe dem Parteigeiſt, ein Spielzeug der Taͤn¬

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde von OCR-Software automatisch erfasst und anschließend gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien von Muttersprachlern nachkontrolliert. Es wurde gemäß dem DTA-Basisformat in XML/TEI P5 kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/24
Zitationshilfe: Menzel, Wolfgang: Die deutsche Literatur. Bd. 1. Stuttgart, 1828, S. 14. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/menzel_literatur01_1828/24>, abgerufen am 24.04.2024.