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Meisel-Heß, Grete: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien, 1904.

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"die Sachen stoßen", - und je weniger verfolgbar
und kontrollierbar seine Hypothesen sind, um so mehr
Gläubige finden sie. "A beau mentir qui vient de loin" sagt
ein altes französisches Sprichwort. Aber auch er kann dem
Tatsächlichen nicht ausweichen, er muß von der abstrakten
Theorie zur Wirklichkeit übergehen - und paßt
sie nicht in die vorbereiteten Formen und Formeln (die er
schon deshalb nicht preisgibt, weil ihn ja ihre Konstruktion
unendlich viel Mühe kostete) - so wird ihr einfach Gewalt
angetan. Und das ist der Moment, wo er strauchelt, wo er
fällt, wo er seinen Nimbus verliert. Drückt da nämlich
irgendwo der Schuh, so wird er nicht weggeworfen, bewahre,
sondern wie im Aschenbrödelmärchen am lebenden Fuße
das abgehackt, was nicht hineinpassen will. Aber die Sache
stimmt nicht, sie verrät sich durch eine rote Spur, die selbst
kindlichste Einfalt und gutmütigste Gläubigkeit nicht übersehen
kann: Ruckediguck, Blut ist im Schuck!

Dieser Fall war der des Dr. Weininger, der jüngst
durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat.
Sein Buch "Geschlecht und Charakter" ist eine wahre
Encyklopädie der Weiberverachtung. Es ist schwer, gegen
einen Toten zu sprechen. Stimmen von jenseits des Lebens
gebieten Ehrfurcht und Schweigen. Dies Buch aber ist eine
irdische Stimme, und daß sein Schöpfer in einer jener
tiefen, entsetzlichen Depressionen, wie sie alle Begabteren,
Strebenden und Ringenden kennen - einer Depression,
die der Selbstvernichtung unheimlich zutreibt und die zu
überwinden ein gewisses Maß physischer Kraft notwendig
ist, die er vielleicht nicht hatte, - seinem Leben ein Ende
machte, das verringert die irdische Wirkung des Buches
nicht, es erhöht sie vielmehr.

Über das Problem des Selbstmordes selbst - nicht
des Weiningerschen, sondern des Selbstmordes im allgemeinen
- teilen sich die Meinungen von jeher in zwei

»die Sachen stoßen«, – und je weniger verfolgbar
und kontrollierbar seine Hypothesen sind, um so mehr
Gläubige finden sie. »A beau mentir qui vient de loin« sagt
ein altes französisches Sprichwort. Aber auch er kann dem
Tatsächlichen nicht ausweichen, er muß von der abstrakten
Theorie zur Wirklichkeit übergehen – und paßt
sie nicht in die vorbereiteten Formen und Formeln (die er
schon deshalb nicht preisgibt, weil ihn ja ihre Konstruktion
unendlich viel Mühe kostete) – so wird ihr einfach Gewalt
angetan. Und das ist der Moment, wo er strauchelt, wo er
fällt, wo er seinen Nimbus verliert. Drückt da nämlich
irgendwo der Schuh, so wird er nicht weggeworfen, bewahre,
sondern wie im Aschenbrödelmärchen am lebenden Fuße
das abgehackt, was nicht hineinpassen will. Aber die Sache
stimmt nicht, sie verrät sich durch eine rote Spur, die selbst
kindlichste Einfalt und gutmütigste Gläubigkeit nicht übersehen
kann: Ruckediguck, Blut ist im Schuck!

Dieser Fall war der des Dr. Weininger, der jüngst
durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat.
Sein Buch »Geschlecht und Charakter« ist eine wahre
Encyklopädie der Weiberverachtung. Es ist schwer, gegen
einen Toten zu sprechen. Stimmen von jenseits des Lebens
gebieten Ehrfurcht und Schweigen. Dies Buch aber ist eine
irdische Stimme, und daß sein Schöpfer in einer jener
tiefen, entsetzlichen Depressionen, wie sie alle Begabteren,
Strebenden und Ringenden kennen – einer Depression,
die der Selbstvernichtung unheimlich zutreibt und die zu
überwinden ein gewisses Maß physischer Kraft notwendig
ist, die er vielleicht nicht hatte, – seinem Leben ein Ende
machte, das verringert die irdische Wirkung des Buches
nicht, es erhöht sie vielmehr.

Über das Problem des Selbstmordes selbst – nicht
des Weiningerschen, sondern des Selbstmordes im allgemeinen
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[3/0009] »die Sachen stoßen«, – und je weniger verfolgbar und kontrollierbar seine Hypothesen sind, um so mehr Gläubige finden sie. »A beau mentir qui vient de loin« sagt ein altes französisches Sprichwort. Aber auch er kann dem Tatsächlichen nicht ausweichen, er muß von der abstrakten Theorie zur Wirklichkeit übergehen – und paßt sie nicht in die vorbereiteten Formen und Formeln (die er schon deshalb nicht preisgibt, weil ihn ja ihre Konstruktion unendlich viel Mühe kostete) – so wird ihr einfach Gewalt angetan. Und das ist der Moment, wo er strauchelt, wo er fällt, wo er seinen Nimbus verliert. Drückt da nämlich irgendwo der Schuh, so wird er nicht weggeworfen, bewahre, sondern wie im Aschenbrödelmärchen am lebenden Fuße das abgehackt, was nicht hineinpassen will. Aber die Sache stimmt nicht, sie verrät sich durch eine rote Spur, die selbst kindlichste Einfalt und gutmütigste Gläubigkeit nicht übersehen kann: Ruckediguck, Blut ist im Schuck! Dieser Fall war der des Dr. Weininger, der jüngst durch Selbstmord seinem Leben ein Ende gemacht hat. Sein Buch »Geschlecht und Charakter« ist eine wahre Encyklopädie der Weiberverachtung. Es ist schwer, gegen einen Toten zu sprechen. Stimmen von jenseits des Lebens gebieten Ehrfurcht und Schweigen. Dies Buch aber ist eine irdische Stimme, und daß sein Schöpfer in einer jener tiefen, entsetzlichen Depressionen, wie sie alle Begabteren, Strebenden und Ringenden kennen – einer Depression, die der Selbstvernichtung unheimlich zutreibt und die zu überwinden ein gewisses Maß physischer Kraft notwendig ist, die er vielleicht nicht hatte, – seinem Leben ein Ende machte, das verringert die irdische Wirkung des Buches nicht, es erhöht sie vielmehr. Über das Problem des Selbstmordes selbst – nicht des Weiningerschen, sondern des Selbstmordes im allgemeinen – teilen sich die Meinungen von jeher in zwei

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Zitationshilfe: Meisel-Heß, Grete: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien, 1904, S. 3. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meiselhess_weiberhass_1904/9>, abgerufen am 29.03.2024.