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Meisel-Heß, Grete: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien, 1904.

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Zur Zeit der Renaissance soll es diese Fesseln nicht gegeben
haben, weibliche Bildungsbestrebungen im Gegenteil
gerne gesehen worden sein, und die Frau hätte (nach Weininger)
damals Gelegenheit gehabt, "zur ungestörten Entfaltung ihrer
geistigen Entwicklungsmöglichkeiten". Die hat sie denn auch
entfaltet zu ästhetischen Zwecken und Zielen, denn
nur solche waren ihr frei gegeben
, und die kamen
natürlich nur für die Frauen der begünstigten, vornehmen
Kreise in Frage, wo sich denn auch eine Blüte weiblicher
"Schöngeistigkeit" entwickelte, auf die damals wahre Hymnen
gesungen wurden: daß aber den Frauen der Renaissance -
in ihrer Gesamtheit, nicht als Ausnahmschance - auch soziale
Ämter eröffnet und damit die einzig ernsthafte Anregung
ihnen gegeben worden wäre, ist nicht bekannt, vielmehr
saß trotz Renaissance und Humanismus diese Gesamtheit
in den Frauengemächern und spann.

Das Hauptmoment aller sozialen Erscheinungen, nämlich
das wirtschaftlich-materiell-soziale Moment existiert für
Weininger nicht, wird entweder überhaupt nicht erwähnt
oder rundweg geleugnet. So wagt er es denn auch, die unerhörte
Behauptung aufzustellen, der Zusammenhang der
ökonomischen Verhältnisse mit der Frauenfrage sei ein
viel lockererer als er gewöhnlich hingestellt wird!!! Nur
bei den Frauen aus dem Proletariat, die sich in die Fabrik
oder zur Bauarbeit drängen, anerkenne er diesen Zusammenhang!
Der Kampf um das materielle Auskommen habe mit
dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt ("wenn" ein
solcher vorhanden sei!!!) nichts zu tun und sei scharf von
ihm zu trennen!

Ja, sollen sich denn die Frauen, die ein materielles
Auskommen suchen und brauchen, alle zum Ziegelschupfen
drängen und nur zum Ziegelschupfen? Sollen sie nicht ein
Anrecht haben, von einer höher qualifizierten und besser
bezahlten Beschäftigung, eben jener, die vielleicht gerade


Zur Zeit der Renaissance soll es diese Fesseln nicht gegeben
haben, weibliche Bildungsbestrebungen im Gegenteil
gerne gesehen worden sein, und die Frau hätte (nach Weininger)
damals Gelegenheit gehabt, »zur ungestörten Entfaltung ihrer
geistigen Entwicklungsmöglichkeiten«. Die hat sie denn auch
entfaltet zu ästhetischen Zwecken und Zielen, denn
nur solche waren ihr frei gegeben
, und die kamen
natürlich nur für die Frauen der begünstigten, vornehmen
Kreise in Frage, wo sich denn auch eine Blüte weiblicher
»Schöngeistigkeit« entwickelte, auf die damals wahre Hymnen
gesungen wurden: daß aber den Frauen der Renaissance –
in ihrer Gesamtheit, nicht als Ausnahmschance – auch soziale
Ämter eröffnet und damit die einzig ernsthafte Anregung
ihnen gegeben worden wäre, ist nicht bekannt, vielmehr
saß trotz Renaissance und Humanismus diese Gesamtheit
in den Frauengemächern und spann.

Das Hauptmoment aller sozialen Erscheinungen, nämlich
das wirtschaftlich-materiell-soziale Moment existiert für
Weininger nicht, wird entweder überhaupt nicht erwähnt
oder rundweg geleugnet. So wagt er es denn auch, die unerhörte
Behauptung aufzustellen, der Zusammenhang der
ökonomischen Verhältnisse mit der Frauenfrage sei ein
viel lockererer als er gewöhnlich hingestellt wird!!! Nur
bei den Frauen aus dem Proletariat, die sich in die Fabrik
oder zur Bauarbeit drängen, anerkenne er diesen Zusammenhang!
Der Kampf um das materielle Auskommen habe mit
dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt (»wenn« ein
solcher vorhanden sei!!!) nichts zu tun und sei scharf von
ihm zu trennen!

Ja, sollen sich denn die Frauen, die ein materielles
Auskommen suchen und brauchen, alle zum Ziegelschupfen
drängen und nur zum Ziegelschupfen? Sollen sie nicht ein
Anrecht haben, von einer höher qualifizierten und besser
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[22/0028] Zur Zeit der Renaissance soll es diese Fesseln nicht gegeben haben, weibliche Bildungsbestrebungen im Gegenteil gerne gesehen worden sein, und die Frau hätte (nach Weininger) damals Gelegenheit gehabt, »zur ungestörten Entfaltung ihrer geistigen Entwicklungsmöglichkeiten«. Die hat sie denn auch entfaltet zu ästhetischen Zwecken und Zielen, denn nur solche waren ihr frei gegeben, und die kamen natürlich nur für die Frauen der begünstigten, vornehmen Kreise in Frage, wo sich denn auch eine Blüte weiblicher »Schöngeistigkeit« entwickelte, auf die damals wahre Hymnen gesungen wurden: daß aber den Frauen der Renaissance – in ihrer Gesamtheit, nicht als Ausnahmschance – auch soziale Ämter eröffnet und damit die einzig ernsthafte Anregung ihnen gegeben worden wäre, ist nicht bekannt, vielmehr saß trotz Renaissance und Humanismus diese Gesamtheit in den Frauengemächern und spann. Das Hauptmoment aller sozialen Erscheinungen, nämlich das wirtschaftlich-materiell-soziale Moment existiert für Weininger nicht, wird entweder überhaupt nicht erwähnt oder rundweg geleugnet. So wagt er es denn auch, die unerhörte Behauptung aufzustellen, der Zusammenhang der ökonomischen Verhältnisse mit der Frauenfrage sei ein viel lockererer als er gewöhnlich hingestellt wird!!! Nur bei den Frauen aus dem Proletariat, die sich in die Fabrik oder zur Bauarbeit drängen, anerkenne er diesen Zusammenhang! Der Kampf um das materielle Auskommen habe mit dem Kampfe um einen geistigen Lebensinhalt (»wenn« ein solcher vorhanden sei!!!) nichts zu tun und sei scharf von ihm zu trennen! Ja, sollen sich denn die Frauen, die ein materielles Auskommen suchen und brauchen, alle zum Ziegelschupfen drängen und nur zum Ziegelschupfen? Sollen sie nicht ein Anrecht haben, von einer höher qualifizierten und besser bezahlten Beschäftigung, eben jener, die vielleicht gerade

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Zitationshilfe: Meisel-Heß, Grete: Weiberhaß und Weiberverachtung. Eine Erwiderung auf die in Dr. Otto Weiningers Buche »Geschlecht und Charakter« geäußerten Anschauungen über »Die Frau und ihre Frage«. Wien, 1904, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/meiselhess_weiberhass_1904/28>, abgerufen am 18.04.2024.