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Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869.

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ausgesetzt ist, führt er ein verborgenes Leben in den elyseischen Gefilden
und zwar mit Artikel 45 der Konstitution vor Augen und im Herzen, der
ihm täglich zuruft: "frere, il faut mourir!" Deine Macht hört auf am
zweiten Sonntag des schönen Monats Mai im vierten Jahr deiner Wahl!
Dann ist die Herrlichkeit am Ende, das Stück spielt nicht zweimal, und wenn
du Schulden hast, siehe bei Zeiten zu, daß du sie mit den dir von der Kon¬
stitution ausgeworfenen 600,000 Franken abzahlst, ziehst du nicht etwa vor,
am zweiten Montag des schönen Monats Mai nach Clichy zu wandern! --
Wenn die Konstitution so dem Präsidenten die faktische Gewalt beilegt, sucht
sie der Nationalversammlung die moralische Macht zu sichern. Abgesehn
davon, daß es unmöglich ist, durch Gesetzesparagraphen eine moralische Macht
zu schaffen, hebt die Konstitution sich hierin wieder selbst auf, indem sie den
Präsidenten von allen Franzosen durch direktes Stimmrecht wählen läßt.
Während die Stimmen Frankreichs sich auf die 750 Mitglieder der National¬
versammlung zersplittern, konzentriren sie sich dagegen hier auf Ein Indivi¬
duum. Während jeder einzelne Volksrepräsentant nur diese oder jene Partei,
diese oder jene Stadt, diesen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬
wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigsten zu wählen,
bei dem man sich weder die Sache noch den Mann so genau ansieht, ist Er
der Erwählte der Nation und der Akt seiner Wahl ist der große Trumpf, den
das souveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausspielt. Die erwählte National¬
versammlung steht in einem metaphysischen, aber der erwählte Präsident in
einem persönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalversammlung stellt
wohl in ihren einzelnen Repräsentanten die mannigfaltigen Seiten des
Nationalgeistes dar, aber in dem Präsidenten inkarnirt er sich. Er besitzt
ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er ist von Volkesgnaden.

Thetis, die Meergöttin, hatte dem Achilles prophezeit, daß er in der
Blüthe der Jugend sterben werde. Die Konstitution, die ihren faulen Fleck
hat, wie Achilles, hatte auch ihre Ahnung, wie Achilles, daß sie frühen Todes
abgehn müsse. Es genügte den konstituirenden reinen Republikanern, einen
Blick aus dem Wolkenhimmel ihrer idealen Republik auf die profane Welt
zu werfen, um zu erkennen, wie der Uebermuth der Royalisten, der Bonapar¬
tisten, der Demokraten, der Kommunisten, und ihr eigner Mißkredit täglich
stiegen, in demselben Maße, als sie sich der Vollendung ihres großen gesetz¬
geberischen Kunstwerks näherten, ohne daß Thetis deshalb das Meer zu ver¬
lassen und ihnen das Geheimniß mitzutheilen brauchte. Sie suchten das Ver¬

ausgeſetzt iſt, führt er ein verborgenes Leben in den elyſeiſchen Gefilden
und zwar mit Artikel 45 der Konſtitution vor Augen und im Herzen, der
ihm täglich zuruft: “frère, il faut mourir!” Deine Macht hört auf am
zweiten Sonntag des ſchönen Monats Mai im vierten Jahr deiner Wahl!
Dann iſt die Herrlichkeit am Ende, das Stück ſpielt nicht zweimal, und wenn
du Schulden haſt, ſiehe bei Zeiten zu, daß du ſie mit den dir von der Kon¬
ſtitution ausgeworfenen 600,000 Franken abzahlſt, ziehſt du nicht etwa vor,
am zweiten Montag des ſchönen Monats Mai nach Clichy zu wandern! —
Wenn die Konſtitution ſo dem Präſidenten die faktiſche Gewalt beilegt, ſucht
ſie der Nationalverſammlung die moraliſche Macht zu ſichern. Abgeſehn
davon, daß es unmöglich iſt, durch Geſetzesparagraphen eine moraliſche Macht
zu ſchaffen, hebt die Konſtitution ſich hierin wieder ſelbſt auf, indem ſie den
Präſidenten von allen Franzoſen durch direktes Stimmrecht wählen läßt.
Während die Stimmen Frankreichs ſich auf die 750 Mitglieder der National¬
verſammlung zerſplittern, konzentriren ſie ſich dagegen hier auf Ein Indivi¬
duum. Während jeder einzelne Volksrepräſentant nur dieſe oder jene Partei,
dieſe oder jene Stadt, dieſen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬
wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigſten zu wählen,
bei dem man ſich weder die Sache noch den Mann ſo genau anſieht, iſt Er
der Erwählte der Nation und der Akt ſeiner Wahl iſt der große Trumpf, den
das ſouveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausſpielt. Die erwählte National¬
verſammlung ſteht in einem metaphyſiſchen, aber der erwählte Präſident in
einem perſönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalverſammlung ſtellt
wohl in ihren einzelnen Repräſentanten die mannigfaltigen Seiten des
Nationalgeiſtes dar, aber in dem Präſidenten inkarnirt er ſich. Er beſitzt
ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er iſt von Volkesgnaden.

Thetis, die Meergöttin, hatte dem Achilles prophezeit, daß er in der
Blüthe der Jugend ſterben werde. Die Konſtitution, die ihren faulen Fleck
hat, wie Achilles, hatte auch ihre Ahnung, wie Achilles, daß ſie frühen Todes
abgehn müſſe. Es genügte den konſtituirenden reinen Republikanern, einen
Blick aus dem Wolkenhimmel ihrer idealen Republik auf die profane Welt
zu werfen, um zu erkennen, wie der Uebermuth der Royaliſten, der Bonapar¬
tiſten, der Demokraten, der Kommuniſten, und ihr eigner Mißkredit täglich
ſtiegen, in demſelben Maße, als ſie ſich der Vollendung ihres großen geſetz¬
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[15/0027] ausgeſetzt iſt, führt er ein verborgenes Leben in den elyſeiſchen Gefilden und zwar mit Artikel 45 der Konſtitution vor Augen und im Herzen, der ihm täglich zuruft: “frère, il faut mourir!” Deine Macht hört auf am zweiten Sonntag des ſchönen Monats Mai im vierten Jahr deiner Wahl! Dann iſt die Herrlichkeit am Ende, das Stück ſpielt nicht zweimal, und wenn du Schulden haſt, ſiehe bei Zeiten zu, daß du ſie mit den dir von der Kon¬ ſtitution ausgeworfenen 600,000 Franken abzahlſt, ziehſt du nicht etwa vor, am zweiten Montag des ſchönen Monats Mai nach Clichy zu wandern! — Wenn die Konſtitution ſo dem Präſidenten die faktiſche Gewalt beilegt, ſucht ſie der Nationalverſammlung die moraliſche Macht zu ſichern. Abgeſehn davon, daß es unmöglich iſt, durch Geſetzesparagraphen eine moraliſche Macht zu ſchaffen, hebt die Konſtitution ſich hierin wieder ſelbſt auf, indem ſie den Präſidenten von allen Franzoſen durch direktes Stimmrecht wählen läßt. Während die Stimmen Frankreichs ſich auf die 750 Mitglieder der National¬ verſammlung zerſplittern, konzentriren ſie ſich dagegen hier auf Ein Indivi¬ duum. Während jeder einzelne Volksrepräſentant nur dieſe oder jene Partei, dieſe oder jene Stadt, dieſen oder jenen Brückenkopf oder auch nur die Noth¬ wendigkeit vertritt, einen beliebigen Siebenhundertundfünfzigſten zu wählen, bei dem man ſich weder die Sache noch den Mann ſo genau anſieht, iſt Er der Erwählte der Nation und der Akt ſeiner Wahl iſt der große Trumpf, den das ſouveräne Volk alle 4 Jahre einmal ausſpielt. Die erwählte National¬ verſammlung ſteht in einem metaphyſiſchen, aber der erwählte Präſident in einem perſönlichen Verhältniß zur Nation. Die Nationalverſammlung ſtellt wohl in ihren einzelnen Repräſentanten die mannigfaltigen Seiten des Nationalgeiſtes dar, aber in dem Präſidenten inkarnirt er ſich. Er beſitzt ihr gegenüber eine Art von göttlichem Recht, er iſt von Volkesgnaden. Thetis, die Meergöttin, hatte dem Achilles prophezeit, daß er in der Blüthe der Jugend ſterben werde. Die Konſtitution, die ihren faulen Fleck hat, wie Achilles, hatte auch ihre Ahnung, wie Achilles, daß ſie frühen Todes abgehn müſſe. Es genügte den konſtituirenden reinen Republikanern, einen Blick aus dem Wolkenhimmel ihrer idealen Republik auf die profane Welt zu werfen, um zu erkennen, wie der Uebermuth der Royaliſten, der Bonapar¬ tiſten, der Demokraten, der Kommuniſten, und ihr eigner Mißkredit täglich ſtiegen, in demſelben Maße, als ſie ſich der Vollendung ihres großen geſetz¬ geberiſchen Kunſtwerks näherten, ohne daß Thetis deshalb das Meer zu ver¬ laſſen und ihnen das Geheimniß mitzutheilen brauchte. Sie ſuchten das Ver¬

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Zitationshilfe: Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. 2. Aufl. Hamburg, 1869, S. 15. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/marx_bonaparte_1869/27>, abgerufen am 28.03.2024.