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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Hydrodiffusion.
haben will, hat sich nur erst an wenigen Punkten aus dem Bereich der
Casuistik in das des Gesetzes erhoben; die meisten uns bekann-
ten Thatsachen entbehren darum des allgemeineren Interesses. Die
folgende Darstellung stellt sich die Aufgabe, neben Hervorhebung der
für den Physiologen wichtigen Fälle, die Anfänge von Gesetzen,
welche die bisherigen Untersuchungen ergaben, und welche sich als
Ausgangspunkte neuer Versuche einladend erweisen, mitzutheilen.
Demgemäss muss die Theorie der Lösung mit aufgenommen werden.

Das Bestehen der Hydrodiffusion, d. h. der Erscheinung, dass
aus in ihnen selbst gelegenen Gründen zwei oder mehrere in Berüh-
rung gekommene verschieden zusammengesetzte Flüssigkeiten ihre
Bestandtheile so lange austauschen, bis sie überall vollkommen gleich-
artig sind, wird dadurch erwiesen, dass diese Vermischung unter den
erwähnten Bedingungen vorkommt, selbst wenn keine andere Ur-
sache derselben, (Erschütterung, spezifisches Gewicht u. s. w.) auf-
zufinden ist. Diese gegenseitige Durchdringung sieht man aber in der
gegebenen Beschränkung selbst wieder als Folge zweier grundsätz-
lich verschiedener Ursachen an, nämlich einerseits der chemischen
Verwandtschaft und anderseits des sogenannten Lösungsvermögens;
den Beweis, ob der eine oder andere dieser Einflüsse wirksam gewe-
sen sei, glaubt man herleiten zu können aus der Entwicklung oder
Bindung von Wärme und aus der vorhandenen oder mangelnden Ver-
bindung nach chemischen Aequivalenten. Ohne zu untersuchen, inwie-
weit diese Annahme gerechtfertigt sei, wollen wir diese Spaltung der
Thatsachen insofern adoptiren, als wir hier vorzugsweise uns an die
Fälle von Mischung halten, welche in beliebigen (nicht in äquivalen-
ten) Verhältnissen ohne Entwicklung von Wärme geschehen.

1. Lösung. Die Erscheinungen, welche die Lösung, d. h. die Ver-
flüssigung fester durch flüssige Stoffe auszeichnen, sind:

a) Es wird jedesmal Wärme latent gemacht. Da diese Wärme un-
zweifelhaft dazu verwendet wird, um die Cohäsion des festen Stoffes
zu überwinden, seinen Uebergang aus dem festen in den flüssigen Zu-
stand möglich zu machen, so muss die Menge der jeweilig verschluck-
ten Wärme mindestens den Werth derjenigen erreichen, welche beim
Schmelzen des fraglichen Stoffes in höhern Temperaturen latent wird.
Die Erfahrungen von Graham *) und Person **) lehren nun aber,
dass bei der Auflösung mehr Wärme dem freien Zuztand entrückt wird,
als bei der Schmelzung, und namentlich dass alles andere gleichge-
setzt, die Menge der verschluckten Wärme wächst mit dem Grade der
Verdünnung, welchen die Lösung erfährt, oder anders ausgedrückt,
mit der Ausdehnung, welche der in der Flüssigkeit vertheilte Stoff er-
leidet. Diese Thatsache führt zu der wichtigen Folgerung, dass die

*) Philosoph. Magaz. XXIV. 1.
**) Annal. d. chim. et phys. 3. Ser. XXXIII.

Hydrodiffusion.
haben will, hat sich nur erst an wenigen Punkten aus dem Bereich der
Casuistik in das des Gesetzes erhoben; die meisten uns bekann-
ten Thatsachen entbehren darum des allgemeineren Interesses. Die
folgende Darstellung stellt sich die Aufgabe, neben Hervorhebung der
für den Physiologen wichtigen Fälle, die Anfänge von Gesetzen,
welche die bisherigen Untersuchungen ergaben, und welche sich als
Ausgangspunkte neuer Versuche einladend erweisen, mitzutheilen.
Demgemäss muss die Theorie der Lösung mit aufgenommen werden.

Das Bestehen der Hydrodiffusion, d. h. der Erscheinung, dass
aus in ihnen selbst gelegenen Gründen zwei oder mehrere in Berüh-
rung gekommene verschieden zusammengesetzte Flüssigkeiten ihre
Bestandtheile so lange austauschen, bis sie überall vollkommen gleich-
artig sind, wird dadurch erwiesen, dass diese Vermischung unter den
erwähnten Bedingungen vorkommt, selbst wenn keine andere Ur-
sache derselben, (Erschütterung, spezifisches Gewicht u. s. w.) auf-
zufinden ist. Diese gegenseitige Durchdringung sieht man aber in der
gegebenen Beschränkung selbst wieder als Folge zweier grundsätz-
lich verschiedener Ursachen an, nämlich einerseits der chemischen
Verwandtschaft und anderseits des sogenannten Lösungsvermögens;
den Beweis, ob der eine oder andere dieser Einflüsse wirksam gewe-
sen sei, glaubt man herleiten zu können aus der Entwicklung oder
Bindung von Wärme und aus der vorhandenen oder mangelnden Ver-
bindung nach chemischen Aequivalenten. Ohne zu untersuchen, inwie-
weit diese Annahme gerechtfertigt sei, wollen wir diese Spaltung der
Thatsachen insofern adoptiren, als wir hier vorzugsweise uns an die
Fälle von Mischung halten, welche in beliebigen (nicht in äquivalen-
ten) Verhältnissen ohne Entwicklung von Wärme geschehen.

1. Lösung. Die Erscheinungen, welche die Lösung, d. h. die Ver-
flüssigung fester durch flüssige Stoffe auszeichnen, sind:

a) Es wird jedesmal Wärme latent gemacht. Da diese Wärme un-
zweifelhaft dazu verwendet wird, um die Cohäsion des festen Stoffes
zu überwinden, seinen Uebergang aus dem festen in den flüssigen Zu-
stand möglich zu machen, so muss die Menge der jeweilig verschluck-
ten Wärme mindestens den Werth derjenigen erreichen, welche beim
Schmelzen des fraglichen Stoffes in höhern Temperaturen latent wird.
Die Erfahrungen von Graham *) und Person **) lehren nun aber,
dass bei der Auflösung mehr Wärme dem freien Zuztand entrückt wird,
als bei der Schmelzung, und namentlich dass alles andere gleichge-
setzt, die Menge der verschluckten Wärme wächst mit dem Grade der
Verdünnung, welchen die Lösung erfährt, oder anders ausgedrückt,
mit der Ausdehnung, welche der in der Flüssigkeit vertheilte Stoff er-
leidet. Diese Thatsache führt zu der wichtigen Folgerung, dass die

*) Philosoph. Magaz. XXIV. 1.
**) Annal. d. chim. et phys. 3. Ser. XXXIII.
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[55/0069] Hydrodiffusion. haben will, hat sich nur erst an wenigen Punkten aus dem Bereich der Casuistik in das des Gesetzes erhoben; die meisten uns bekann- ten Thatsachen entbehren darum des allgemeineren Interesses. Die folgende Darstellung stellt sich die Aufgabe, neben Hervorhebung der für den Physiologen wichtigen Fälle, die Anfänge von Gesetzen, welche die bisherigen Untersuchungen ergaben, und welche sich als Ausgangspunkte neuer Versuche einladend erweisen, mitzutheilen. Demgemäss muss die Theorie der Lösung mit aufgenommen werden. Das Bestehen der Hydrodiffusion, d. h. der Erscheinung, dass aus in ihnen selbst gelegenen Gründen zwei oder mehrere in Berüh- rung gekommene verschieden zusammengesetzte Flüssigkeiten ihre Bestandtheile so lange austauschen, bis sie überall vollkommen gleich- artig sind, wird dadurch erwiesen, dass diese Vermischung unter den erwähnten Bedingungen vorkommt, selbst wenn keine andere Ur- sache derselben, (Erschütterung, spezifisches Gewicht u. s. w.) auf- zufinden ist. Diese gegenseitige Durchdringung sieht man aber in der gegebenen Beschränkung selbst wieder als Folge zweier grundsätz- lich verschiedener Ursachen an, nämlich einerseits der chemischen Verwandtschaft und anderseits des sogenannten Lösungsvermögens; den Beweis, ob der eine oder andere dieser Einflüsse wirksam gewe- sen sei, glaubt man herleiten zu können aus der Entwicklung oder Bindung von Wärme und aus der vorhandenen oder mangelnden Ver- bindung nach chemischen Aequivalenten. Ohne zu untersuchen, inwie- weit diese Annahme gerechtfertigt sei, wollen wir diese Spaltung der Thatsachen insofern adoptiren, als wir hier vorzugsweise uns an die Fälle von Mischung halten, welche in beliebigen (nicht in äquivalen- ten) Verhältnissen ohne Entwicklung von Wärme geschehen. 1. Lösung. Die Erscheinungen, welche die Lösung, d. h. die Ver- flüssigung fester durch flüssige Stoffe auszeichnen, sind: a) Es wird jedesmal Wärme latent gemacht. Da diese Wärme un- zweifelhaft dazu verwendet wird, um die Cohäsion des festen Stoffes zu überwinden, seinen Uebergang aus dem festen in den flüssigen Zu- stand möglich zu machen, so muss die Menge der jeweilig verschluck- ten Wärme mindestens den Werth derjenigen erreichen, welche beim Schmelzen des fraglichen Stoffes in höhern Temperaturen latent wird. Die Erfahrungen von Graham *) und Person **) lehren nun aber, dass bei der Auflösung mehr Wärme dem freien Zuztand entrückt wird, als bei der Schmelzung, und namentlich dass alles andere gleichge- setzt, die Menge der verschluckten Wärme wächst mit dem Grade der Verdünnung, welchen die Lösung erfährt, oder anders ausgedrückt, mit der Ausdehnung, welche der in der Flüssigkeit vertheilte Stoff er- leidet. Diese Thatsache führt zu der wichtigen Folgerung, dass die *) Philosoph. Magaz. XXIV. 1. **) Annal. d. chim. et phys. 3. Ser. XXXIII.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 55. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/69>, abgerufen am 19.04.2024.