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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Eiweissartige Stoffe.
die einmal gebildeten Formen leicht wieder in krystallinische Frag-
mente zerfielen.

Ob der Mangel an Krystallisationsfähigkeit den Eiweissstoffen unter allen Um-
ständen zukommt d. h. eine sogenannte Grundeigenschaft derselben ist, oder nur
unter ähnlichen als die sind, in welchen wir sie im thierischen Körper antreffen,
muss so lange zweifelhaft bleiben, als nicht ausgedehntere Versuche zur Herstel-
lung des krystallinischen Zustandes vorliegen. So weit bekannt, zeigt kein Stoff
unter allen Umständen beim Uebertritt in den festen Zustand krystallinisches Ge-
füge *). -- Die Analogie erlaubt also den Schluss, dass auch die Eiweissstoffe unter
andern Bedingungen krystallisiren werden. Für diese Behauptung sprechen auch
die von Reichert **) und Lehmann ***) beobachteten Krystalle, die, mögen sie
bestehen woraus sie wollen, jedenfalls aus Substanzen gebildet sind, welche mit
den Eiweisskörpern sehr viele Eigenschaften theilen.

c) Die im festen Aggregatzustande befindlichen Eiweissstoffe ha-
ben zum Wasser und vielen wässerigen Lösungen (und zum Theil
auch zu Fetten) eine grosse Adhäsionsverwandtschaft. Diese Ver-
wandtschaft ist so beträchtlich, dass die vollkommen trockenen Stoffe
das Wassergas der Atmosphäre mit grosser Begierde an sich ziehen
und in sich condensiren. In wässerige Flüssigkeiten gelegt, nehmen
sie längere Zeit (oft mehrere Tage lang) hindurch, unter allmäliger Vo-
lumzunahme Wasser bis zu einem endlichen Maximum auf, die ersten
Mengen mit grösserer und die darauffolgenden mit einer geringeren
Geschwindigkeit. Diese Erscheinung bezeichnet man mit dem Namen
der Quellung oder Imbibition. Durch einige mehr beiläufig +) als
absichtlich unternommene Untersuchungen weiss man, dass das Ma-
ximum der aufgenommenen Flüssigkeit theils abhängig ist von Beson-
derheit der Eiweissstoffe, als da sind die Temperatur, der sie beim
Trocknen ausgesetzt waren, die Zeitdauer, während welcher sie sich
im trockenen Zustand befanden u. s. w., theils von der Natur der Flüs-
sigkeit und der in ihr aufgelösten Stoffe, und der Temperatur dersel-
ben u. s. w. (siehe Diffusion der tropfbaren Flüssigkeiten).

Durch diese Flüssigkeitsaufnahme erhalten die festen Eiweiss-
stoffe einige für den thierischen Haushalt sehr wesentliche Verände-
rungen ihrer Eigenschaften. Zuerst gelingt es hierdurch, mit einer
geringen Menge von fester Substanz ein sehr voluminöses Gewebe
darzustellen, wie ohne Weiteres erhellt. Zweitens tritt durch die
Wasseraufnahme eine Veränderung in der Cohäsion ein; nach Wert-
heim
++) ist die Cohäsion um so geringer, je mehr Wasser aufgenom-
men wurde. Drittens verändert sich der Elastizitätscoeffizient und
zugleich die ganze Beschaffenheit der Elastizität. Im vollkommen
trockenen Zustand sind die Eiweissstoffe mit einem sehr grossen Ela-

*) Wenn man den Begriff Krystallisation nicht so weit wie Frankenhein ausdehnt; dann ist
aber auch Eiweiss krystallinisch. Krystallisation u. Amorphie. Breslau 1852.
**) Müllers Archiv 1849.
***) Lehmann, Pharmazeut. Centralblatt 1852. N. 226.
+) Chevreul. Annales de chimie et de physique XIX. (1821). Liebig, Untersuchungen über
einige Ursachen der Säftebewegung. 1848. p. 8 u. f.
++) Annales de chimie XXI. (1847). p. 358.

Eiweissartige Stoffe.
die einmal gebildeten Formen leicht wieder in krystallinische Frag-
mente zerfielen.

Ob der Mangel an Krystallisationsfähigkeit den Eiweissstoffen unter allen Um-
ständen zukommt d. h. eine sogenannte Grundeigenschaft derselben ist, oder nur
unter ähnlichen als die sind, in welchen wir sie im thierischen Körper antreffen,
muss so lange zweifelhaft bleiben, als nicht ausgedehntere Versuche zur Herstel-
lung des krystallinischen Zustandes vorliegen. So weit bekannt, zeigt kein Stoff
unter allen Umständen beim Uebertritt in den festen Zustand krystallinisches Ge-
füge *). — Die Analogie erlaubt also den Schluss, dass auch die Eiweissstoffe unter
andern Bedingungen krystallisiren werden. Für diese Behauptung sprechen auch
die von Reichert **) und Lehmann ***) beobachteten Krystalle, die, mögen sie
bestehen woraus sie wollen, jedenfalls aus Substanzen gebildet sind, welche mit
den Eiweisskörpern sehr viele Eigenschaften theilen.

c) Die im festen Aggregatzustande befindlichen Eiweissstoffe ha-
ben zum Wasser und vielen wässerigen Lösungen (und zum Theil
auch zu Fetten) eine grosse Adhäsionsverwandtschaft. Diese Ver-
wandtschaft ist so beträchtlich, dass die vollkommen trockenen Stoffe
das Wassergas der Atmosphäre mit grosser Begierde an sich ziehen
und in sich condensiren. In wässerige Flüssigkeiten gelegt, nehmen
sie längere Zeit (oft mehrere Tage lang) hindurch, unter allmäliger Vo-
lumzunahme Wasser bis zu einem endlichen Maximum auf, die ersten
Mengen mit grösserer und die darauffolgenden mit einer geringeren
Geschwindigkeit. Diese Erscheinung bezeichnet man mit dem Namen
der Quellung oder Imbibition. Durch einige mehr beiläufig †) als
absichtlich unternommene Untersuchungen weiss man, dass das Ma-
ximum der aufgenommenen Flüssigkeit theils abhängig ist von Beson-
derheit der Eiweissstoffe, als da sind die Temperatur, der sie beim
Trocknen ausgesetzt waren, die Zeitdauer, während welcher sie sich
im trockenen Zustand befanden u. s. w., theils von der Natur der Flüs-
sigkeit und der in ihr aufgelösten Stoffe, und der Temperatur dersel-
ben u. s. w. (siehe Diffusion der tropfbaren Flüssigkeiten).

Durch diese Flüssigkeitsaufnahme erhalten die festen Eiweiss-
stoffe einige für den thierischen Haushalt sehr wesentliche Verände-
rungen ihrer Eigenschaften. Zuerst gelingt es hierdurch, mit einer
geringen Menge von fester Substanz ein sehr voluminöses Gewebe
darzustellen, wie ohne Weiteres erhellt. Zweitens tritt durch die
Wasseraufnahme eine Veränderung in der Cohäsion ein; nach Wert-
heim
††) ist die Cohäsion um so geringer, je mehr Wasser aufgenom-
men wurde. Drittens verändert sich der Elastizitätscoeffizient und
zugleich die ganze Beschaffenheit der Elastizität. Im vollkommen
trockenen Zustand sind die Eiweissstoffe mit einem sehr grossen Ela-

*) Wenn man den Begriff Krystallisation nicht so weit wie Frankenhein ausdehnt; dann ist
aber auch Eiweiss krystallinisch. Krystallisation u. Amorphie. Breslau 1852.
**) Müllers Archiv 1849.
***) Lehmann, Pharmazeut. Centralblatt 1852. N. 226.
†) Chevreul. Annales de chimie et de physique XIX. (1821). Liebig, Untersuchungen über
einige Ursachen der Säftebewegung. 1848. p. 8 u. f.
††) Annales de chimie XXI. (1847). p. 358.
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[45/0059] Eiweissartige Stoffe. die einmal gebildeten Formen leicht wieder in krystallinische Frag- mente zerfielen. Ob der Mangel an Krystallisationsfähigkeit den Eiweissstoffen unter allen Um- ständen zukommt d. h. eine sogenannte Grundeigenschaft derselben ist, oder nur unter ähnlichen als die sind, in welchen wir sie im thierischen Körper antreffen, muss so lange zweifelhaft bleiben, als nicht ausgedehntere Versuche zur Herstel- lung des krystallinischen Zustandes vorliegen. So weit bekannt, zeigt kein Stoff unter allen Umständen beim Uebertritt in den festen Zustand krystallinisches Ge- füge *). — Die Analogie erlaubt also den Schluss, dass auch die Eiweissstoffe unter andern Bedingungen krystallisiren werden. Für diese Behauptung sprechen auch die von Reichert **) und Lehmann ***) beobachteten Krystalle, die, mögen sie bestehen woraus sie wollen, jedenfalls aus Substanzen gebildet sind, welche mit den Eiweisskörpern sehr viele Eigenschaften theilen. c) Die im festen Aggregatzustande befindlichen Eiweissstoffe ha- ben zum Wasser und vielen wässerigen Lösungen (und zum Theil auch zu Fetten) eine grosse Adhäsionsverwandtschaft. Diese Ver- wandtschaft ist so beträchtlich, dass die vollkommen trockenen Stoffe das Wassergas der Atmosphäre mit grosser Begierde an sich ziehen und in sich condensiren. In wässerige Flüssigkeiten gelegt, nehmen sie längere Zeit (oft mehrere Tage lang) hindurch, unter allmäliger Vo- lumzunahme Wasser bis zu einem endlichen Maximum auf, die ersten Mengen mit grösserer und die darauffolgenden mit einer geringeren Geschwindigkeit. Diese Erscheinung bezeichnet man mit dem Namen der Quellung oder Imbibition. Durch einige mehr beiläufig †) als absichtlich unternommene Untersuchungen weiss man, dass das Ma- ximum der aufgenommenen Flüssigkeit theils abhängig ist von Beson- derheit der Eiweissstoffe, als da sind die Temperatur, der sie beim Trocknen ausgesetzt waren, die Zeitdauer, während welcher sie sich im trockenen Zustand befanden u. s. w., theils von der Natur der Flüs- sigkeit und der in ihr aufgelösten Stoffe, und der Temperatur dersel- ben u. s. w. (siehe Diffusion der tropfbaren Flüssigkeiten). Durch diese Flüssigkeitsaufnahme erhalten die festen Eiweiss- stoffe einige für den thierischen Haushalt sehr wesentliche Verände- rungen ihrer Eigenschaften. Zuerst gelingt es hierdurch, mit einer geringen Menge von fester Substanz ein sehr voluminöses Gewebe darzustellen, wie ohne Weiteres erhellt. Zweitens tritt durch die Wasseraufnahme eine Veränderung in der Cohäsion ein; nach Wert- heim ††) ist die Cohäsion um so geringer, je mehr Wasser aufgenom- men wurde. Drittens verändert sich der Elastizitätscoeffizient und zugleich die ganze Beschaffenheit der Elastizität. Im vollkommen trockenen Zustand sind die Eiweissstoffe mit einem sehr grossen Ela- *) Wenn man den Begriff Krystallisation nicht so weit wie Frankenhein ausdehnt; dann ist aber auch Eiweiss krystallinisch. Krystallisation u. Amorphie. Breslau 1852. **) Müllers Archiv 1849. ***) Lehmann, Pharmazeut. Centralblatt 1852. N. 226. †) Chevreul. Annales de chimie et de physique XIX. (1821). Liebig, Untersuchungen über einige Ursachen der Säftebewegung. 1848. p. 8 u. f. ††) Annales de chimie XXI. (1847). p. 358.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 45. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/59>, abgerufen am 29.03.2024.