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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Schlaf, Traum.
Hautempfindung etc.) entsprechenden Weise empfinden, sie geben aber
gewöhnlich zu andern Gedankencombinationen Veranlassung und wer-
den namentlich von dem Verstande andern Ursachen als während des
Wachens zugeschrieben.

c. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele einerseits
und den Muskel- und Sinnesnerven andrerseits sind gelöst, es bleibt
dagegen noch das Vermögen der Gedankenbildung erhalten. Der
Grund, aus welchem die Nerven den seelischen Einflüssen entzogen
sind, darf nicht in einer Abschwächung oder gar einer Vernichtung
der Erregbarkeit der Nerven gesucht werden, weil es sehr leicht ge-
lingt, durch Einwirkungen der bekannten Erregungsmittel auf die
Sinnesnerven die entsprechenden Reflexe zu erzielen; Lichteindrücke
auf die Retina bedingen Iriscontraktionen, sanftes Bestreichen der
Handfläche oder Achselhöhle u. s. w., lösen Muskelbewegung der
Hand oder des Oberarms aus u. s. f. -- Nach fast allgemein überein-
stimmenden Angaben sind in diesem Zustande aber auch die höheren
Seelenerscheinungen, (die Bildung der Gedanken und Vorstellungen)
wesentlich abweichend in ihrer Erscheinung von dem des Wachens.
Denn 1. die Vorstellungen sinnlicher Gegenstände erhalten den Cha-
rakter der Empfindung (Phantasmata), d. h. man glaubt die Gegen-
stände und Personen, welche man sich im Traume vorstellt, zu sehen,
zu hören, zu fühlen und zu schmecken. Sehr bemerkenswerth ist es,
dass Blinde, vorausgesetzt, dass sie sich während der ersten Jahre
ihrer Lebzeit des Augenlichtes erfreuten, nur im Traume die Täuschung
sehen zu können geniessen. 2. Das Bewusstsein, dass die Gedanken
und Vorstellungen von uns ausgehen, ist zum Theil verschwunden;
wir legen bekanntlich unsere eignen Gedanken den gesehenen Phan-
tasmen unter, und sind oft überrascht sehr geistreiche und scheinbar
völlig fremde oder wenigstens fernliegende Bemerkungen aus dem
Munde der Phantasmen zu hören. 3. Den Schlüssen, welche wir bilden,
fehlt die Logik, obwohl wir das Bedürfniss zur Bildung von Urtheilen
besitzen. 4. Die Gedanken treten meist in sehr raschem Wechsel auf,
können nicht willkürlich festgehalten, noch weniger auf einen be-
stimmten Punkt gerichtet werden, und entschwinden sehr leicht dem
Gedächtniss.

d. Endlich soll es Zustände vollkommener Loslösung der Seele
von Bewegungs- und Empfindungsnerven und gleichzeitigen voll-
kommenen Stillstandes in der Gedankenbildung geben. Diese Behaup-
tung wird von allen Psychologen sehr eifrig bestritten, welche die
Seele als ein absolut einfaches Wesen ansehen, welches die Bedin-
gungen seiner Thätigkeit in sich selbst trägt. Die Controverse lässt
sich leider nicht erledigen, da wenn wir uns auch häufig keiner Träume
aus einem tiefen Schlafe erinnern, damit die Gegenwart von Träumen
nicht widerlegt ist, die keine Erinnerung zurückliessen.

Schlaf, Traum.
Hautempfindung etc.) entsprechenden Weise empfinden, sie geben aber
gewöhnlich zu andern Gedankencombinationen Veranlassung und wer-
den namentlich von dem Verstande andern Ursachen als während des
Wachens zugeschrieben.

c. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele einerseits
und den Muskel- und Sinnesnerven andrerseits sind gelöst, es bleibt
dagegen noch das Vermögen der Gedankenbildung erhalten. Der
Grund, aus welchem die Nerven den seelischen Einflüssen entzogen
sind, darf nicht in einer Abschwächung oder gar einer Vernichtung
der Erregbarkeit der Nerven gesucht werden, weil es sehr leicht ge-
lingt, durch Einwirkungen der bekannten Erregungsmittel auf die
Sinnesnerven die entsprechenden Reflexe zu erzielen; Lichteindrücke
auf die Retina bedingen Iriscontraktionen, sanftes Bestreichen der
Handfläche oder Achselhöhle u. s. w., lösen Muskelbewegung der
Hand oder des Oberarms aus u. s. f. — Nach fast allgemein überein-
stimmenden Angaben sind in diesem Zustande aber auch die höheren
Seelenerscheinungen, (die Bildung der Gedanken und Vorstellungen)
wesentlich abweichend in ihrer Erscheinung von dem des Wachens.
Denn 1. die Vorstellungen sinnlicher Gegenstände erhalten den Cha-
rakter der Empfindung (Phantasmata), d. h. man glaubt die Gegen-
stände und Personen, welche man sich im Traume vorstellt, zu sehen,
zu hören, zu fühlen und zu schmecken. Sehr bemerkenswerth ist es,
dass Blinde, vorausgesetzt, dass sie sich während der ersten Jahre
ihrer Lebzeit des Augenlichtes erfreuten, nur im Traume die Täuschung
sehen zu können geniessen. 2. Das Bewusstsein, dass die Gedanken
und Vorstellungen von uns ausgehen, ist zum Theil verschwunden;
wir legen bekanntlich unsere eignen Gedanken den gesehenen Phan-
tasmen unter, und sind oft überrascht sehr geistreiche und scheinbar
völlig fremde oder wenigstens fernliegende Bemerkungen aus dem
Munde der Phantasmen zu hören. 3. Den Schlüssen, welche wir bilden,
fehlt die Logik, obwohl wir das Bedürfniss zur Bildung von Urtheilen
besitzen. 4. Die Gedanken treten meist in sehr raschem Wechsel auf,
können nicht willkürlich festgehalten, noch weniger auf einen be-
stimmten Punkt gerichtet werden, und entschwinden sehr leicht dem
Gedächtniss.

d. Endlich soll es Zustände vollkommener Loslösung der Seele
von Bewegungs- und Empfindungsnerven und gleichzeitigen voll-
kommenen Stillstandes in der Gedankenbildung geben. Diese Behaup-
tung wird von allen Psychologen sehr eifrig bestritten, welche die
Seele als ein absolut einfaches Wesen ansehen, welches die Bedin-
gungen seiner Thätigkeit in sich selbst trägt. Die Controverse lässt
sich leider nicht erledigen, da wenn wir uns auch häufig keiner Träume
aus einem tiefen Schlafe erinnern, damit die Gegenwart von Träumen
nicht widerlegt ist, die keine Erinnerung zurückliessen.

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[457/0471] Schlaf, Traum. Hautempfindung etc.) entsprechenden Weise empfinden, sie geben aber gewöhnlich zu andern Gedankencombinationen Veranlassung und wer- den namentlich von dem Verstande andern Ursachen als während des Wachens zugeschrieben. c. Die gegenseitigen Beziehungen zwischen der Seele einerseits und den Muskel- und Sinnesnerven andrerseits sind gelöst, es bleibt dagegen noch das Vermögen der Gedankenbildung erhalten. Der Grund, aus welchem die Nerven den seelischen Einflüssen entzogen sind, darf nicht in einer Abschwächung oder gar einer Vernichtung der Erregbarkeit der Nerven gesucht werden, weil es sehr leicht ge- lingt, durch Einwirkungen der bekannten Erregungsmittel auf die Sinnesnerven die entsprechenden Reflexe zu erzielen; Lichteindrücke auf die Retina bedingen Iriscontraktionen, sanftes Bestreichen der Handfläche oder Achselhöhle u. s. w., lösen Muskelbewegung der Hand oder des Oberarms aus u. s. f. — Nach fast allgemein überein- stimmenden Angaben sind in diesem Zustande aber auch die höheren Seelenerscheinungen, (die Bildung der Gedanken und Vorstellungen) wesentlich abweichend in ihrer Erscheinung von dem des Wachens. Denn 1. die Vorstellungen sinnlicher Gegenstände erhalten den Cha- rakter der Empfindung (Phantasmata), d. h. man glaubt die Gegen- stände und Personen, welche man sich im Traume vorstellt, zu sehen, zu hören, zu fühlen und zu schmecken. Sehr bemerkenswerth ist es, dass Blinde, vorausgesetzt, dass sie sich während der ersten Jahre ihrer Lebzeit des Augenlichtes erfreuten, nur im Traume die Täuschung sehen zu können geniessen. 2. Das Bewusstsein, dass die Gedanken und Vorstellungen von uns ausgehen, ist zum Theil verschwunden; wir legen bekanntlich unsere eignen Gedanken den gesehenen Phan- tasmen unter, und sind oft überrascht sehr geistreiche und scheinbar völlig fremde oder wenigstens fernliegende Bemerkungen aus dem Munde der Phantasmen zu hören. 3. Den Schlüssen, welche wir bilden, fehlt die Logik, obwohl wir das Bedürfniss zur Bildung von Urtheilen besitzen. 4. Die Gedanken treten meist in sehr raschem Wechsel auf, können nicht willkürlich festgehalten, noch weniger auf einen be- stimmten Punkt gerichtet werden, und entschwinden sehr leicht dem Gedächtniss. d. Endlich soll es Zustände vollkommener Loslösung der Seele von Bewegungs- und Empfindungsnerven und gleichzeitigen voll- kommenen Stillstandes in der Gedankenbildung geben. Diese Behaup- tung wird von allen Psychologen sehr eifrig bestritten, welche die Seele als ein absolut einfaches Wesen ansehen, welches die Bedin- gungen seiner Thätigkeit in sich selbst trägt. Die Controverse lässt sich leider nicht erledigen, da wenn wir uns auch häufig keiner Träume aus einem tiefen Schlafe erinnern, damit die Gegenwart von Träumen nicht widerlegt ist, die keine Erinnerung zurückliessen.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/471>, abgerufen am 29.03.2024.