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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Wüllkürliche motorische Erregung.

4. Wie rasch kann der Uebergang der willkürlichen Erregung
von einem Nerven zum andern wechseln? Kann man mit grösserer
Geschwindigkeit zwei weniger intensive Bewegungen aufeinander
folgen lassen, als zwei kräftigere? Sind gewisse Muskelgruppen in
rascherer Zeitfolge in Anregung zu setzen als andere? Diese und
andere ähnliche Fragen sind oft aufgeworfen, aber noch keinmal durch
gründliche Versuche beantwortet.

5. Besondere Schwierigkeiten bietet die Erläuterung der Erschei-
nung, dass es dem willkürlich erregenden Vermögen, ohne eine Vor-
stellung von der anatomischen Lagerung der Nervenröhren im Hirn
und ihrer zugehörigen Muskeln zu besitzen, gelingt, nach in ihm woh-
nenden Bestimmungen bald diesen oder jenen im Voraus gewussten
Bewegungseffekt einzuleiten. Soweit unsere in diesem Punkt noch
unvollkommene Kenntniss zu schliessen erlaubt, geschieht dieses da-
durch, dass dem erregenden Prinzip durch Erfahrung allmälig die Zu-
stände oder auch die Richtungen, die die Erregung nehmen muss, be-
kannt werden, welche zu einer bestimmten Bewegung nothwendig
sind. Diese Erfahrungen sammelt aber das Bewusstsein durch die
Sinnesnerven; denn jede Bewegung eines Gliedes wird durch die im
Gliede selbst oder in einem andern Sinne (Auge oder Ohr) erweckten
Empfindungen wahrgenommen, indem nun das besondere Bewegungs-
bestreben und die jenes Bestreben begleitende Bewegung im Gedächt-
niss bleiben, gelingt es allmälig die Bewegungen nach Belieben her-
vorzurufen.

Der Beweis für diese Auffassung liegt darin, dass a. der Säugling nur sehr all-
mälig den Gebrauch seiner Glieder kennen lernt; b. dass wenn ein Sinn, der den Men-
schen einzig und allein über gewisse Bewegungseffekte unterrichtet, ausfällt, diese
Bewegungen selbst der Willkür nur sehr mangelhaft unterthan werden, wie z. B.
nach Gehörmangel keine reine Stimme im musikalischen Wortsinn sich bildet; c. end-
lich aber weist auf die stetige Mitwirkung der sinnlichen Erfahrung zur willkürlichen
Muskelerregung die Thatsache hin, dass wir den Grad der Zusammenziehung ir-
gend welcher Muskeln stetig nach den besondern sinnlichen Eindrücken (oder auch
nach Erinnerungen an dieselben) bemessen. So gehen wir im Dunklen auf uns unbe-
kanntem Boden unsicher; wir richten die Muskelkontraktion für einen Steinwurf
auf einen gesehenen Gegenstand nach dem Grade der Schärfe unseres Augenmas-
ses ein u. s. w.

6. Die Kraftsumme, welche der muskulöse Apparat des mensch-
lichen Körpers unter dem Einfluss des willkürlich erregenden Prin-
zips entwickelt, oder zu entwicklen vermag, kann unter günstigen Um-
ständen einen sehr beträchtlichen Werth erreichen. Diese Thatsache
gab in früherer Zeit zu der Meinung Veranlassung, dass die erregen-
den Hirntheile selbst grosse Kräfte entwicklen, indem man glaubte,
dass alle die Kräfte, welche von unsern Muskeln zur Bewegung des
Skelets oder der an dasselbe angehängten Gewichte, und zur Ueber-
windung von allen den Widerständen, die in den Muskeln und in den
Skelettheilen der Bewegung entgegentreten, verwendet werden, von

Ludwig, Physiologie I. 29
Wüllkürliche motorische Erregung.

4. Wie rasch kann der Uebergang der willkürlichen Erregung
von einem Nerven zum andern wechseln? Kann man mit grösserer
Geschwindigkeit zwei weniger intensive Bewegungen aufeinander
folgen lassen, als zwei kräftigere? Sind gewisse Muskelgruppen in
rascherer Zeitfolge in Anregung zu setzen als andere? Diese und
andere ähnliche Fragen sind oft aufgeworfen, aber noch keinmal durch
gründliche Versuche beantwortet.

5. Besondere Schwierigkeiten bietet die Erläuterung der Erschei-
nung, dass es dem willkürlich erregenden Vermögen, ohne eine Vor-
stellung von der anatomischen Lagerung der Nervenröhren im Hirn
und ihrer zugehörigen Muskeln zu besitzen, gelingt, nach in ihm woh-
nenden Bestimmungen bald diesen oder jenen im Voraus gewussten
Bewegungseffekt einzuleiten. Soweit unsere in diesem Punkt noch
unvollkommene Kenntniss zu schliessen erlaubt, geschieht dieses da-
durch, dass dem erregenden Prinzip durch Erfahrung allmälig die Zu-
stände oder auch die Richtungen, die die Erregung nehmen muss, be-
kannt werden, welche zu einer bestimmten Bewegung nothwendig
sind. Diese Erfahrungen sammelt aber das Bewusstsein durch die
Sinnesnerven; denn jede Bewegung eines Gliedes wird durch die im
Gliede selbst oder in einem andern Sinne (Auge oder Ohr) erweckten
Empfindungen wahrgenommen, indem nun das besondere Bewegungs-
bestreben und die jenes Bestreben begleitende Bewegung im Gedächt-
niss bleiben, gelingt es allmälig die Bewegungen nach Belieben her-
vorzurufen.

Der Beweis für diese Auffassung liegt darin, dass a. der Säugling nur sehr all-
mälig den Gebrauch seiner Glieder kennen lernt; b. dass wenn ein Sinn, der den Men-
schen einzig und allein über gewisse Bewegungseffekte unterrichtet, ausfällt, diese
Bewegungen selbst der Willkür nur sehr mangelhaft unterthan werden, wie z. B.
nach Gehörmangel keine reine Stimme im musikalischen Wortsinn sich bildet; c. end-
lich aber weist auf die stetige Mitwirkung der sinnlichen Erfahrung zur willkürlichen
Muskelerregung die Thatsache hin, dass wir den Grad der Zusammenziehung ir-
gend welcher Muskeln stetig nach den besondern sinnlichen Eindrücken (oder auch
nach Erinnerungen an dieselben) bemessen. So gehen wir im Dunklen auf uns unbe-
kanntem Boden unsicher; wir richten die Muskelkontraktion für einen Steinwurf
auf einen gesehenen Gegenstand nach dem Grade der Schärfe unseres Augenmas-
ses ein u. s. w.

6. Die Kraftsumme, welche der muskulöse Apparat des mensch-
lichen Körpers unter dem Einfluss des willkürlich erregenden Prin-
zips entwickelt, oder zu entwicklen vermag, kann unter günstigen Um-
ständen einen sehr beträchtlichen Werth erreichen. Diese Thatsache
gab in früherer Zeit zu der Meinung Veranlassung, dass die erregen-
den Hirntheile selbst grosse Kräfte entwicklen, indem man glaubte,
dass alle die Kräfte, welche von unsern Muskeln zur Bewegung des
Skelets oder der an dasselbe angehängten Gewichte, und zur Ueber-
windung von allen den Widerständen, die in den Muskeln und in den
Skelettheilen der Bewegung entgegentreten, verwendet werden, von

Ludwig, Physiologie I. 29
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[449/0463] Wüllkürliche motorische Erregung. 4. Wie rasch kann der Uebergang der willkürlichen Erregung von einem Nerven zum andern wechseln? Kann man mit grösserer Geschwindigkeit zwei weniger intensive Bewegungen aufeinander folgen lassen, als zwei kräftigere? Sind gewisse Muskelgruppen in rascherer Zeitfolge in Anregung zu setzen als andere? Diese und andere ähnliche Fragen sind oft aufgeworfen, aber noch keinmal durch gründliche Versuche beantwortet. 5. Besondere Schwierigkeiten bietet die Erläuterung der Erschei- nung, dass es dem willkürlich erregenden Vermögen, ohne eine Vor- stellung von der anatomischen Lagerung der Nervenröhren im Hirn und ihrer zugehörigen Muskeln zu besitzen, gelingt, nach in ihm woh- nenden Bestimmungen bald diesen oder jenen im Voraus gewussten Bewegungseffekt einzuleiten. Soweit unsere in diesem Punkt noch unvollkommene Kenntniss zu schliessen erlaubt, geschieht dieses da- durch, dass dem erregenden Prinzip durch Erfahrung allmälig die Zu- stände oder auch die Richtungen, die die Erregung nehmen muss, be- kannt werden, welche zu einer bestimmten Bewegung nothwendig sind. Diese Erfahrungen sammelt aber das Bewusstsein durch die Sinnesnerven; denn jede Bewegung eines Gliedes wird durch die im Gliede selbst oder in einem andern Sinne (Auge oder Ohr) erweckten Empfindungen wahrgenommen, indem nun das besondere Bewegungs- bestreben und die jenes Bestreben begleitende Bewegung im Gedächt- niss bleiben, gelingt es allmälig die Bewegungen nach Belieben her- vorzurufen. Der Beweis für diese Auffassung liegt darin, dass a. der Säugling nur sehr all- mälig den Gebrauch seiner Glieder kennen lernt; b. dass wenn ein Sinn, der den Men- schen einzig und allein über gewisse Bewegungseffekte unterrichtet, ausfällt, diese Bewegungen selbst der Willkür nur sehr mangelhaft unterthan werden, wie z. B. nach Gehörmangel keine reine Stimme im musikalischen Wortsinn sich bildet; c. end- lich aber weist auf die stetige Mitwirkung der sinnlichen Erfahrung zur willkürlichen Muskelerregung die Thatsache hin, dass wir den Grad der Zusammenziehung ir- gend welcher Muskeln stetig nach den besondern sinnlichen Eindrücken (oder auch nach Erinnerungen an dieselben) bemessen. So gehen wir im Dunklen auf uns unbe- kanntem Boden unsicher; wir richten die Muskelkontraktion für einen Steinwurf auf einen gesehenen Gegenstand nach dem Grade der Schärfe unseres Augenmas- ses ein u. s. w. 6. Die Kraftsumme, welche der muskulöse Apparat des mensch- lichen Körpers unter dem Einfluss des willkürlich erregenden Prin- zips entwickelt, oder zu entwicklen vermag, kann unter günstigen Um- ständen einen sehr beträchtlichen Werth erreichen. Diese Thatsache gab in früherer Zeit zu der Meinung Veranlassung, dass die erregen- den Hirntheile selbst grosse Kräfte entwicklen, indem man glaubte, dass alle die Kräfte, welche von unsern Muskeln zur Bewegung des Skelets oder der an dasselbe angehängten Gewichte, und zur Ueber- windung von allen den Widerständen, die in den Muskeln und in den Skelettheilen der Bewegung entgegentreten, verwendet werden, von Ludwig, Physiologie I. 29

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 449. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/463>, abgerufen am 18.04.2024.