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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Empfindung.
vermögen auch nicht nach Willkür und namentlich nicht innerhalb
kurzer Zeit nach Belieben Umänderungen an ihnen hervorzubringen. --
Trotz alle dem ist jedoch die Hoffnung auf eine Besiegung dieser
Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Denn wir wissen einerseits, dass
bei dem gesunden wachenden Menschen die Gewohnheit, Uebung
u. s. w. die empfindenden Hirntheile niemals jenseits gewisser Gren-
zen zu ändern vermag, so dass dieselben je nachdem sie geübt oder
ungeübt wären einen bestimmten Zustand des Nerven ganz abweichend
empfänden, z. B. das Blaue für gelb oder umgekehrt ansähen; ander-
seits aber sind wir auch vermögend durch Einführung von Giften in
das Blut, wie z. B. von Aether, Alkohol, Opium, Lustgas u. dgl. Ver-
änderungen in den empfindenden Hirntheilen zu erzeugen, die bei al-
len Menschen etwas Gemeinsames darbieten und zudem nicht immer
die Nerven in merkbarer Weise aus ihren normalen Zuständen zu brin-
gen vermögen. --

Diese thatsächlichen Andeutungen für den Gewinn einer Unter-
suchungsmethode sind aber um so fester zu halten, und ihre Weiter-
bildung um so mehr zu versuchen, weil in dieser Richtung die ein-
zige Möglichkeit zu liegen scheint Aufschlüsse zu erhalten nicht allein
über die Erscheinungslehre der Empfindung, sondern auch über die
den empfindenden Hirntheilen zu Grunde liegenden elementaren Beding-
ungen; und dieses letztre um so mehr, wenn die Aufhellung des ana-
tomischen und chemischen Hirnbaues gelingen sollte, indem wir dann
möglicher Weise durch vielleicht complizirte aber sichere Schlüsse
den wahren Vorgang der Hirnvergiftung, die Folgen der Blutdrücke
u. s. w. auszumittlen vermöchten. Gelänge es aber nicht den ange-
deuteten Weg zu betreten, so dürfte man überhaupt die Hoffnung auf-
zugeben haben, in dieses dunkle Gebiet einzudringen.

Dieses Ziel hat nun auch in der That den bessern Physiologen
und unter diesen vor Allen dem unsterblichen E. H. Weber vorge-
schwebt; das was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist schon
zum grössten Theil bei den Sinneswerkzeugen und dem Muskelsinn
mitgetheilt worden. Ergänzend ist nur noch folgendes beizufügen.

3. Wenn eine grössere Zahl von Nervenröhren gleichzeitig und
zwar bis zu einer solchen Stärke erregt wird, dass die Empfindung
die Bildung von deutlichen Vorstellungen über den Ort und die Art der
Erregung erlaubt, so können gleichzeitig nicht alle, sondern nur ein-
zelne der erregten Nerven empfunden werden. -- Wir haben schon
erwähnt, dass sich Fälle ereignen, in welchen keiner der erregten
Nerven zur Empfindung kommt, und erwähnt, dass dieselben eintre-
ten, wenn die Erregung zu einer Zeit geschieht, in welcher der Mensch
in leidenschaftlichen Zuständen sich befindet, oder mit der Bildung von
ergreifenden Gedanken oder der Ausführung von schwierigen Muskel-
bewegungen beschäftigt ist. Diese allbekannte Thatsache drückt man

Empfindung.
vermögen auch nicht nach Willkür und namentlich nicht innerhalb
kurzer Zeit nach Belieben Umänderungen an ihnen hervorzubringen. —
Trotz alle dem ist jedoch die Hoffnung auf eine Besiegung dieser
Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Denn wir wissen einerseits, dass
bei dem gesunden wachenden Menschen die Gewohnheit, Uebung
u. s. w. die empfindenden Hirntheile niemals jenseits gewisser Gren-
zen zu ändern vermag, so dass dieselben je nachdem sie geübt oder
ungeübt wären einen bestimmten Zustand des Nerven ganz abweichend
empfänden, z. B. das Blaue für gelb oder umgekehrt ansähen; ander-
seits aber sind wir auch vermögend durch Einführung von Giften in
das Blut, wie z. B. von Aether, Alkohol, Opium, Lustgas u. dgl. Ver-
änderungen in den empfindenden Hirntheilen zu erzeugen, die bei al-
len Menschen etwas Gemeinsames darbieten und zudem nicht immer
die Nerven in merkbarer Weise aus ihren normalen Zuständen zu brin-
gen vermögen. —

Diese thatsächlichen Andeutungen für den Gewinn einer Unter-
suchungsmethode sind aber um so fester zu halten, und ihre Weiter-
bildung um so mehr zu versuchen, weil in dieser Richtung die ein-
zige Möglichkeit zu liegen scheint Aufschlüsse zu erhalten nicht allein
über die Erscheinungslehre der Empfindung, sondern auch über die
den empfindenden Hirntheilen zu Grunde liegenden elementaren Beding-
ungen; und dieses letztre um so mehr, wenn die Aufhellung des ana-
tomischen und chemischen Hirnbaues gelingen sollte, indem wir dann
möglicher Weise durch vielleicht complizirte aber sichere Schlüsse
den wahren Vorgang der Hirnvergiftung, die Folgen der Blutdrücke
u. s. w. auszumittlen vermöchten. Gelänge es aber nicht den ange-
deuteten Weg zu betreten, so dürfte man überhaupt die Hoffnung auf-
zugeben haben, in dieses dunkle Gebiet einzudringen.

Dieses Ziel hat nun auch in der That den bessern Physiologen
und unter diesen vor Allen dem unsterblichen E. H. Weber vorge-
schwebt; das was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist schon
zum grössten Theil bei den Sinneswerkzeugen und dem Muskelsinn
mitgetheilt worden. Ergänzend ist nur noch folgendes beizufügen.

3. Wenn eine grössere Zahl von Nervenröhren gleichzeitig und
zwar bis zu einer solchen Stärke erregt wird, dass die Empfindung
die Bildung von deutlichen Vorstellungen über den Ort und die Art der
Erregung erlaubt, so können gleichzeitig nicht alle, sondern nur ein-
zelne der erregten Nerven empfunden werden. — Wir haben schon
erwähnt, dass sich Fälle ereignen, in welchen keiner der erregten
Nerven zur Empfindung kommt, und erwähnt, dass dieselben eintre-
ten, wenn die Erregung zu einer Zeit geschieht, in welcher der Mensch
in leidenschaftlichen Zuständen sich befindet, oder mit der Bildung von
ergreifenden Gedanken oder der Ausführung von schwierigen Muskel-
bewegungen beschäftigt ist. Diese allbekannte Thatsache drückt man

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[443/0457] Empfindung. vermögen auch nicht nach Willkür und namentlich nicht innerhalb kurzer Zeit nach Belieben Umänderungen an ihnen hervorzubringen. — Trotz alle dem ist jedoch die Hoffnung auf eine Besiegung dieser Schwierigkeiten nicht aufzugeben. Denn wir wissen einerseits, dass bei dem gesunden wachenden Menschen die Gewohnheit, Uebung u. s. w. die empfindenden Hirntheile niemals jenseits gewisser Gren- zen zu ändern vermag, so dass dieselben je nachdem sie geübt oder ungeübt wären einen bestimmten Zustand des Nerven ganz abweichend empfänden, z. B. das Blaue für gelb oder umgekehrt ansähen; ander- seits aber sind wir auch vermögend durch Einführung von Giften in das Blut, wie z. B. von Aether, Alkohol, Opium, Lustgas u. dgl. Ver- änderungen in den empfindenden Hirntheilen zu erzeugen, die bei al- len Menschen etwas Gemeinsames darbieten und zudem nicht immer die Nerven in merkbarer Weise aus ihren normalen Zuständen zu brin- gen vermögen. — Diese thatsächlichen Andeutungen für den Gewinn einer Unter- suchungsmethode sind aber um so fester zu halten, und ihre Weiter- bildung um so mehr zu versuchen, weil in dieser Richtung die ein- zige Möglichkeit zu liegen scheint Aufschlüsse zu erhalten nicht allein über die Erscheinungslehre der Empfindung, sondern auch über die den empfindenden Hirntheilen zu Grunde liegenden elementaren Beding- ungen; und dieses letztre um so mehr, wenn die Aufhellung des ana- tomischen und chemischen Hirnbaues gelingen sollte, indem wir dann möglicher Weise durch vielleicht complizirte aber sichere Schlüsse den wahren Vorgang der Hirnvergiftung, die Folgen der Blutdrücke u. s. w. auszumittlen vermöchten. Gelänge es aber nicht den ange- deuteten Weg zu betreten, so dürfte man überhaupt die Hoffnung auf- zugeben haben, in dieses dunkle Gebiet einzudringen. Dieses Ziel hat nun auch in der That den bessern Physiologen und unter diesen vor Allen dem unsterblichen E. H. Weber vorge- schwebt; das was sie in dieser Richtung geleistet haben, ist schon zum grössten Theil bei den Sinneswerkzeugen und dem Muskelsinn mitgetheilt worden. Ergänzend ist nur noch folgendes beizufügen. 3. Wenn eine grössere Zahl von Nervenröhren gleichzeitig und zwar bis zu einer solchen Stärke erregt wird, dass die Empfindung die Bildung von deutlichen Vorstellungen über den Ort und die Art der Erregung erlaubt, so können gleichzeitig nicht alle, sondern nur ein- zelne der erregten Nerven empfunden werden. — Wir haben schon erwähnt, dass sich Fälle ereignen, in welchen keiner der erregten Nerven zur Empfindung kommt, und erwähnt, dass dieselben eintre- ten, wenn die Erregung zu einer Zeit geschieht, in welcher der Mensch in leidenschaftlichen Zuständen sich befindet, oder mit der Bildung von ergreifenden Gedanken oder der Ausführung von schwierigen Muskel- bewegungen beschäftigt ist. Diese allbekannte Thatsache drückt man

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 443. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/457>, abgerufen am 28.03.2024.