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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Empfindung.
dig sei, sondern die Nerven selbst nur eine der möglichen Veranlas-
sungen zur Empfindung abgeben, mit einem Worte dieselbe nur erregen.

Will man also die Bedingungen der Empfindung aufzählen, so
muss man offenbar auch anzugeben im Stande sein, worin dieses im
Hirn neu hinzutretende oder angeregte, bestehe; gerade das ist
aber unmöglich.

Die gewagten Annahmen, mit denen man sich gewöhnlich behilft, sind nicht im
Stande Jemanden zu befriedigen, der in strenger Weise der Physiologie obliegt. Zu
ihnen gehört z. B. die eines Seelenatoms; diese scheinbar einfache Annahme, mehr
entsprungen aus der mathematischen Anschauung des Differentials als der des physi-
kalischen Atoms, macht aber bei genauer Durchführung unzählige ganz ungerechtfer-
tigte Hilfshypothesen nothwendig wie z. B. die Annahme mannigfacher Zwischenorgane
zwischen Nerven und Seele, damit man die Befähigung des Nervenrohrs zu spezi-
fisch verschiedenen Empfindungen begreife, je nachdem dasselbe aus dem Auge oder
dem Ohr u. s. w. kommt, oder um den Einfluss des Schlafs, der Gifte, der Uebung und
dergleichen auf die Empfindung erklärlich zu machen. Man würde den kaum errungenen
Boden des Thatsächlichen wieder preisgeben, wenn man auf die Vorstellung von dem
Seelenatom, das seine Existenz auf geradem Wege auch nicht einmal wahrscheinlich
machen kann, und dessen Annahme, wie erwähnt, zahllose complicirte Hilfshypothesen
verlangt, noch genauer eingehen wollte. -- Ebenso ungerechtfertigt ist aber auch die
Annahme, dass die Nervenröhren und Ganglienkugeln oberhalb der Sehhügel empfinden
sollen; denn unterhalb derselben vermögen sie es doch nicht.

2. Der eben gegebenen Darstellung gemäss wird die nächste
Aufgabe der Wissenschaft einzig darin bestehen können, Wege aus-
findig zu machen, auf denen man unserm Problem durch den Versuch
näher tritt. Da wir nun den Empfindungsakt des wachenden gesun-
den Menschen vorläufig zerlegt hatten in einen dem Hirn eigenthüm-
lichen und einen den Nerven angehörigen Hergang, so wird der all-
gemeinsten Untersuchungsmethode gemäss, zunächst darauf zu den-
ken sein, den einen der Faktoren nach allen Richtungen hin verän-
derlich zu machen, während der andere unveränderlich erhalten wird.
-- Die Variation der von den Nerven ausgehenden Wirkungen ist nun
aber in mehr oder weniger vollkommener Art zu ermöglichen in-
dem man nach Belieben verändern kann: die Zahl und die Art der
gleichzeitig erregten Nervenröhren; die Stärke, die Zeitdauer und die
Geschwindigkeit des zeitlichen Wechsels der Erregung innerhalb der-
selben oder ihrer inneren Natur nach verschiedenartiger Nerven. --
Viel schwieriger, ja meist unmöglich dürfte es dagegen erscheinen
auf ähnliche Weise auf die bei der Empfindung betheiligten Vorrich-
tungen des Hirns zu wirken, sei es, dass man sie veränderlich machen
oder unveränderlich erhalten wollte; da wir seine Leistungen nur am
bewussten urtheilsfähigen Menschen zu prüfen im Stande sind, so fin-
den sie sich nicht allein den unberechenbaren Einflüssen ausgesetzt,
die aus dem Verlaufe des leiblichen Lebens (Blutzusammensetzung,
Blutdruck, Wärme u. s. w.) fliessen, und die Nachrichten die wir über
ihre Funktionirung erhalten, sind nicht allein abhängig von den Ge-
wohnheiten, Uebungen und Ermüdung der Urtheilsfähigkeit, sondern wir

Empfindung.
dig sei, sondern die Nerven selbst nur eine der möglichen Veranlas-
sungen zur Empfindung abgeben, mit einem Worte dieselbe nur erregen.

Will man also die Bedingungen der Empfindung aufzählen, so
muss man offenbar auch anzugeben im Stande sein, worin dieses im
Hirn neu hinzutretende oder angeregte, bestehe; gerade das ist
aber unmöglich.

Die gewagten Annahmen, mit denen man sich gewöhnlich behilft, sind nicht im
Stande Jemanden zu befriedigen, der in strenger Weise der Physiologie obliegt. Zu
ihnen gehört z. B. die eines Seelenatoms; diese scheinbar einfache Annahme, mehr
entsprungen aus der mathematischen Anschauung des Differentials als der des physi-
kalischen Atoms, macht aber bei genauer Durchführung unzählige ganz ungerechtfer-
tigte Hilfshypothesen nothwendig wie z. B. die Annahme mannigfacher Zwischenorgane
zwischen Nerven und Seele, damit man die Befähigung des Nervenrohrs zu spezi-
fisch verschiedenen Empfindungen begreife, je nachdem dasselbe aus dem Auge oder
dem Ohr u. s. w. kommt, oder um den Einfluss des Schlafs, der Gifte, der Uebung und
dergleichen auf die Empfindung erklärlich zu machen. Man würde den kaum errungenen
Boden des Thatsächlichen wieder preisgeben, wenn man auf die Vorstellung von dem
Seelenatom, das seine Existenz auf geradem Wege auch nicht einmal wahrscheinlich
machen kann, und dessen Annahme, wie erwähnt, zahllose complicirte Hilfshypothesen
verlangt, noch genauer eingehen wollte. — Ebenso ungerechtfertigt ist aber auch die
Annahme, dass die Nervenröhren und Ganglienkugeln oberhalb der Sehhügel empfinden
sollen; denn unterhalb derselben vermögen sie es doch nicht.

2. Der eben gegebenen Darstellung gemäss wird die nächste
Aufgabe der Wissenschaft einzig darin bestehen können, Wege aus-
findig zu machen, auf denen man unserm Problem durch den Versuch
näher tritt. Da wir nun den Empfindungsakt des wachenden gesun-
den Menschen vorläufig zerlegt hatten in einen dem Hirn eigenthüm-
lichen und einen den Nerven angehörigen Hergang, so wird der all-
gemeinsten Untersuchungsmethode gemäss, zunächst darauf zu den-
ken sein, den einen der Faktoren nach allen Richtungen hin verän-
derlich zu machen, während der andere unveränderlich erhalten wird.
— Die Variation der von den Nerven ausgehenden Wirkungen ist nun
aber in mehr oder weniger vollkommener Art zu ermöglichen in-
dem man nach Belieben verändern kann: die Zahl und die Art der
gleichzeitig erregten Nervenröhren; die Stärke, die Zeitdauer und die
Geschwindigkeit des zeitlichen Wechsels der Erregung innerhalb der-
selben oder ihrer inneren Natur nach verschiedenartiger Nerven. —
Viel schwieriger, ja meist unmöglich dürfte es dagegen erscheinen
auf ähnliche Weise auf die bei der Empfindung betheiligten Vorrich-
tungen des Hirns zu wirken, sei es, dass man sie veränderlich machen
oder unveränderlich erhalten wollte; da wir seine Leistungen nur am
bewussten urtheilsfähigen Menschen zu prüfen im Stande sind, so fin-
den sie sich nicht allein den unberechenbaren Einflüssen ausgesetzt,
die aus dem Verlaufe des leiblichen Lebens (Blutzusammensetzung,
Blutdruck, Wärme u. s. w.) fliessen, und die Nachrichten die wir über
ihre Funktionirung erhalten, sind nicht allein abhängig von den Ge-
wohnheiten, Uebungen und Ermüdung der Urtheilsfähigkeit, sondern wir

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[442/0456] Empfindung. dig sei, sondern die Nerven selbst nur eine der möglichen Veranlas- sungen zur Empfindung abgeben, mit einem Worte dieselbe nur erregen. Will man also die Bedingungen der Empfindung aufzählen, so muss man offenbar auch anzugeben im Stande sein, worin dieses im Hirn neu hinzutretende oder angeregte, bestehe; gerade das ist aber unmöglich. Die gewagten Annahmen, mit denen man sich gewöhnlich behilft, sind nicht im Stande Jemanden zu befriedigen, der in strenger Weise der Physiologie obliegt. Zu ihnen gehört z. B. die eines Seelenatoms; diese scheinbar einfache Annahme, mehr entsprungen aus der mathematischen Anschauung des Differentials als der des physi- kalischen Atoms, macht aber bei genauer Durchführung unzählige ganz ungerechtfer- tigte Hilfshypothesen nothwendig wie z. B. die Annahme mannigfacher Zwischenorgane zwischen Nerven und Seele, damit man die Befähigung des Nervenrohrs zu spezi- fisch verschiedenen Empfindungen begreife, je nachdem dasselbe aus dem Auge oder dem Ohr u. s. w. kommt, oder um den Einfluss des Schlafs, der Gifte, der Uebung und dergleichen auf die Empfindung erklärlich zu machen. Man würde den kaum errungenen Boden des Thatsächlichen wieder preisgeben, wenn man auf die Vorstellung von dem Seelenatom, das seine Existenz auf geradem Wege auch nicht einmal wahrscheinlich machen kann, und dessen Annahme, wie erwähnt, zahllose complicirte Hilfshypothesen verlangt, noch genauer eingehen wollte. — Ebenso ungerechtfertigt ist aber auch die Annahme, dass die Nervenröhren und Ganglienkugeln oberhalb der Sehhügel empfinden sollen; denn unterhalb derselben vermögen sie es doch nicht. 2. Der eben gegebenen Darstellung gemäss wird die nächste Aufgabe der Wissenschaft einzig darin bestehen können, Wege aus- findig zu machen, auf denen man unserm Problem durch den Versuch näher tritt. Da wir nun den Empfindungsakt des wachenden gesun- den Menschen vorläufig zerlegt hatten in einen dem Hirn eigenthüm- lichen und einen den Nerven angehörigen Hergang, so wird der all- gemeinsten Untersuchungsmethode gemäss, zunächst darauf zu den- ken sein, den einen der Faktoren nach allen Richtungen hin verän- derlich zu machen, während der andere unveränderlich erhalten wird. — Die Variation der von den Nerven ausgehenden Wirkungen ist nun aber in mehr oder weniger vollkommener Art zu ermöglichen in- dem man nach Belieben verändern kann: die Zahl und die Art der gleichzeitig erregten Nervenröhren; die Stärke, die Zeitdauer und die Geschwindigkeit des zeitlichen Wechsels der Erregung innerhalb der- selben oder ihrer inneren Natur nach verschiedenartiger Nerven. — Viel schwieriger, ja meist unmöglich dürfte es dagegen erscheinen auf ähnliche Weise auf die bei der Empfindung betheiligten Vorrich- tungen des Hirns zu wirken, sei es, dass man sie veränderlich machen oder unveränderlich erhalten wollte; da wir seine Leistungen nur am bewussten urtheilsfähigen Menschen zu prüfen im Stande sind, so fin- den sie sich nicht allein den unberechenbaren Einflüssen ausgesetzt, die aus dem Verlaufe des leiblichen Lebens (Blutzusammensetzung, Blutdruck, Wärme u. s. w.) fliessen, und die Nachrichten die wir über ihre Funktionirung erhalten, sind nicht allein abhängig von den Ge- wohnheiten, Uebungen und Ermüdung der Urtheilsfähigkeit, sondern wir

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 442. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/456>, abgerufen am 25.04.2024.