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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Natürliches Gehen.
bialende und damit der ganze Rumpf nach aussen, resp. auf die unter-
stützte Seite geführt werden. Ausserdem gilt für die Steifung der
Gelenke alles das was beim Stehen mitgetheilt worden ist. Geht nun
das Bein aus der unterstützenden in die stemmende Periode über,
so muss es sich verlängern, weil ohne dieses der Rumpf nicht in
horizontaler Richtung nach vorn geschoben und getragen werden
könnte. Diese Verlängerung geschieht zuerst durch Streckung des
Knies und dann des Fusses im Sprunggelenk, wodurch zugleich der
Rumpf um die Länge des Fusses, indem sich derselbe vom Boden ab-
wickelt, nach vorn geschoben wird. Hierauf wird eine noch weiter-
schreitende Verlängerung durch möglichste Streckung im Hüftgelenke
bewerkstelligt. Hat damit das Bein das Maximum seiner Verlängerung
erfahren, so hebt es sich um in dem nun folgenden Schwingungsakt
keine Reibung zu erleiden, durch Beugung im Kniegelenk von Boden
ab. Die Muskeln, die sich bei dem ganzen Akte betheiligen, sind mm.
gastrocnemii und soleus zur Streckung des Fusses, die vierköpfigen
Kniestrecker und die Hüftstrecker; am Schluss der Streckwirkung aber
wiederum die mm. gastrocnemii zur Beugung des Knies. Nach Mes-
sungen der Gebrüder Weber beläuft sich der ganze Werth der Ver-
längerung des Beines um ungefähr derjenigen Länge, die es wäh-
rend des Stützens besitzt.

Als das erste eben betrachtete Bein sich in seiner grössten
Verkürzung befand, hatte das andere seine grösste Länge erreicht und
war in dem Augenblick als das erstere zum stemmenden wurde vom
Boden abgehoben. Einmal abgehoben schwingt es nach vorn, aber
nicht in Folge eines Muskelzuges, sondern einfach durch seine
Schwere; es schwingt wie ein aufgehangenes Pendel, und zwar in
der Richtung von innen und hinten nach aussen und vorn. Die Mög-
lichkeit einer solchen Schwingung ist durch die aequilibrinte Aufhän-
gung des Beins in der Pfanne gegeben, und der Beweiss für diese Art
von Bewegung liegt darin, dass nach Messungen von W. Weber die
Schwingungszeit am lebenden und todten Bein genau übereinstimmt
und zwar gerade so viel beträgt, als die eines Pendels von der Länge
des Beins und der ihm zukommenden Massenvertheilung.

Aus diesen Thatsachen ergeben sich nun alle auf die Schritt-
dauer
und die Schrittlänge bezüglichen Folgerungen, die durch
W. Webers genaue Messungen am gehenden Menschen bestätigt
sind.

Die Schrittdauer ist einerseits abhängig von dem Zeitraum,
in welchem beide Beine den Boden gleichzeitig berühren und ander-
seits von der Schwingungszeit des schwebenden Beins. Den ersten
Punkt anlangend so unterscheidet sich bekanntlich das Gehen vom
Laufen dadurch, dass im ersteren ein Zeitraum erscheint, in dem beide
Beine auf dem Boden stehen, und im letztern ein solcher, in dem beide

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bialende und damit der ganze Rumpf nach aussen, resp. auf die unter-
stützte Seite geführt werden. Ausserdem gilt für die Steifung der
Gelenke alles das was beim Stehen mitgetheilt worden ist. Geht nun
das Bein aus der unterstützenden in die stemmende Periode über,
so muss es sich verlängern, weil ohne dieses der Rumpf nicht in
horizontaler Richtung nach vorn geschoben und getragen werden
könnte. Diese Verlängerung geschieht zuerst durch Streckung des
Knies und dann des Fusses im Sprunggelenk, wodurch zugleich der
Rumpf um die Länge des Fusses, indem sich derselbe vom Boden ab-
wickelt, nach vorn geschoben wird. Hierauf wird eine noch weiter-
schreitende Verlängerung durch möglichste Streckung im Hüftgelenke
bewerkstelligt. Hat damit das Bein das Maximum seiner Verlängerung
erfahren, so hebt es sich um in dem nun folgenden Schwingungsakt
keine Reibung zu erleiden, durch Beugung im Kniegelenk von Boden
ab. Die Muskeln, die sich bei dem ganzen Akte betheiligen, sind mm.
gastrocnemii und soleus zur Streckung des Fusses, die vierköpfigen
Kniestrecker und die Hüftstrecker; am Schluss der Streckwirkung aber
wiederum die mm. gastrocnemii zur Beugung des Knies. Nach Mes-
sungen der Gebrüder Weber beläuft sich der ganze Werth der Ver-
längerung des Beines um ungefähr ⅐ derjenigen Länge, die es wäh-
rend des Stützens besitzt.

Als das erste eben betrachtete Bein sich in seiner grössten
Verkürzung befand, hatte das andere seine grösste Länge erreicht und
war in dem Augenblick als das erstere zum stemmenden wurde vom
Boden abgehoben. Einmal abgehoben schwingt es nach vorn, aber
nicht in Folge eines Muskelzuges, sondern einfach durch seine
Schwere; es schwingt wie ein aufgehangenes Pendel, und zwar in
der Richtung von innen und hinten nach aussen und vorn. Die Mög-
lichkeit einer solchen Schwingung ist durch die aequilibrinte Aufhän-
gung des Beins in der Pfanne gegeben, und der Beweiss für diese Art
von Bewegung liegt darin, dass nach Messungen von W. Weber die
Schwingungszeit am lebenden und todten Bein genau übereinstimmt
und zwar gerade so viel beträgt, als die eines Pendels von der Länge
des Beins und der ihm zukommenden Massenvertheilung.

Aus diesen Thatsachen ergeben sich nun alle auf die Schritt-
dauer
und die Schrittlänge bezüglichen Folgerungen, die durch
W. Webers genaue Messungen am gehenden Menschen bestätigt
sind.

Die Schrittdauer ist einerseits abhängig von dem Zeitraum,
in welchem beide Beine den Boden gleichzeitig berühren und ander-
seits von der Schwingungszeit des schwebenden Beins. Den ersten
Punkt anlangend so unterscheidet sich bekanntlich das Gehen vom
Laufen dadurch, dass im ersteren ein Zeitraum erscheint, in dem beide
Beine auf dem Boden stehen, und im letztern ein solcher, in dem beide

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[411/0425] Natürliches Gehen. bialende und damit der ganze Rumpf nach aussen, resp. auf die unter- stützte Seite geführt werden. Ausserdem gilt für die Steifung der Gelenke alles das was beim Stehen mitgetheilt worden ist. Geht nun das Bein aus der unterstützenden in die stemmende Periode über, so muss es sich verlängern, weil ohne dieses der Rumpf nicht in horizontaler Richtung nach vorn geschoben und getragen werden könnte. Diese Verlängerung geschieht zuerst durch Streckung des Knies und dann des Fusses im Sprunggelenk, wodurch zugleich der Rumpf um die Länge des Fusses, indem sich derselbe vom Boden ab- wickelt, nach vorn geschoben wird. Hierauf wird eine noch weiter- schreitende Verlängerung durch möglichste Streckung im Hüftgelenke bewerkstelligt. Hat damit das Bein das Maximum seiner Verlängerung erfahren, so hebt es sich um in dem nun folgenden Schwingungsakt keine Reibung zu erleiden, durch Beugung im Kniegelenk von Boden ab. Die Muskeln, die sich bei dem ganzen Akte betheiligen, sind mm. gastrocnemii und soleus zur Streckung des Fusses, die vierköpfigen Kniestrecker und die Hüftstrecker; am Schluss der Streckwirkung aber wiederum die mm. gastrocnemii zur Beugung des Knies. Nach Mes- sungen der Gebrüder Weber beläuft sich der ganze Werth der Ver- längerung des Beines um ungefähr ⅐ derjenigen Länge, die es wäh- rend des Stützens besitzt. Als das erste eben betrachtete Bein sich in seiner grössten Verkürzung befand, hatte das andere seine grösste Länge erreicht und war in dem Augenblick als das erstere zum stemmenden wurde vom Boden abgehoben. Einmal abgehoben schwingt es nach vorn, aber nicht in Folge eines Muskelzuges, sondern einfach durch seine Schwere; es schwingt wie ein aufgehangenes Pendel, und zwar in der Richtung von innen und hinten nach aussen und vorn. Die Mög- lichkeit einer solchen Schwingung ist durch die aequilibrinte Aufhän- gung des Beins in der Pfanne gegeben, und der Beweiss für diese Art von Bewegung liegt darin, dass nach Messungen von W. Weber die Schwingungszeit am lebenden und todten Bein genau übereinstimmt und zwar gerade so viel beträgt, als die eines Pendels von der Länge des Beins und der ihm zukommenden Massenvertheilung. Aus diesen Thatsachen ergeben sich nun alle auf die Schritt- dauer und die Schrittlänge bezüglichen Folgerungen, die durch W. Webers genaue Messungen am gehenden Menschen bestätigt sind. Die Schrittdauer ist einerseits abhängig von dem Zeitraum, in welchem beide Beine den Boden gleichzeitig berühren und ander- seits von der Schwingungszeit des schwebenden Beins. Den ersten Punkt anlangend so unterscheidet sich bekanntlich das Gehen vom Laufen dadurch, dass im ersteren ein Zeitraum erscheint, in dem beide Beine auf dem Boden stehen, und im letztern ein solcher, in dem beide

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/425>, abgerufen am 29.03.2024.