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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Muskelsinn.
che sich zu den Muskeln begeben, die an einer Gruppe von Bewegun-
gen betheiligt sind; und endlich dass Muskeln, welche in sehr viel-
fachen Verbindungen mit andern auftreten, auch stärkere Nerven-
stämme in sich zur Verbreitung bringen. Ueber das Einzelne der
Einrichtung dieser Bewegungsordner sind wir dagegen noch vollständig
ohne Kenntnisse. Schon bei der Betrachtung der Reflexbewegung
wurde hervorgehoben, dass man sie sich nicht als eine einfache, räum-
liche Gruppirung der Nervenröhren zu denken habe.

5. Veränderungen der Empfindungsorgane durch die
Muskeln oder Muskelnerven. Muskelsinn
. *) Die Mittheilungen,
welche der Seele vom jeweiligen Zustande der Muskeln zukommen,
äussern sich unter verschiedenen Formen.

a. Alle der Willkür unterworfenen Muskeln bringen das Be-
stehen und den Grad ihrer Zusammenziehung zum Bewusstsein
ohne jegliche Empfindung innerhalb der bewegten Mus-
keln
. Dieses Bewusstsein äussert sich entweder unmittelbar als
Vorstellung von der Stellung der Glieder, oder noch häufiger als eine
Modifikation unserer aus anderweitigen Erfahrungen gezogenen
Urtheile. -- Solche Erscheinungen finden sich ausgesprochen

Im Tastsinn. a) Die Form eines Körpers wird uns nur dann zur
Vorstellung, wenn wir mit den beweglichen Gliedern, auf denen tas-
tende Flächen sich befinden, die Form umgreifen. Dass hier die
Muskelbewegung das Urtheil der Form wesentlich bedingt, ergibt
sich sogleich von selbst, wenn man bedenkt, dass den tastenden Flä-
chen beim Umgreifen eines Cylinders, Viereckes etc. mit den Fingern
selbst kein Unterschied in der Empfindung zu Theil werden
kann. -- b) Wir beurtheilen aus unseren Bewegungen und aus
dem veränderlichen Drucke, welchen tastende Flächen von wider-
standleistenden Körpern erfahren, die Richtung, in welcher ein Wider-
stand oder ein Zug auf unsern Organismus wirkt; so z. B. aus Bewe-
gungen des Kopfes die Zugrichtung, welche auf unsere Haare
ausgeübt wird; E. H. Weber. -- g) Wir schätzen die Länge eines in
der Hand u. s. w. gehaltenen, und gegen eine unbewegliche Unter-
lage festgestemmten Gegenstandes aus dem Umfang der Muskel-
zusammenziehung, die nothwendig ist um ihn um gleiche Winkel
in ein und derselben Ebene zu drehen etc. --

Im Gesichtssinn. a) In das Urtheil über die Stellung der ge-
sehenen Gegenstände zum Horizont geht die Vorstellung über die
Lage des Rumpfes und Kopfes mit ein, wie dies unwiderleglich
dadurch bewiesen wird, dass dieselben Netzhautfasern, die von einem
Nachbild eingenommen sind, uns beim Aufrechtstehen des Kopfes
senkrecht und beim Biegen des Kopfes wagrecht gelagert erschei-
nen. (Rüte). -- b. Die scheinbare Grösse des gesehenen Objekts ist

*) E. H. Weber, Tastsinn in Wagners Handwörterbuch III. b.

Muskelsinn.
che sich zu den Muskeln begeben, die an einer Gruppe von Bewegun-
gen betheiligt sind; und endlich dass Muskeln, welche in sehr viel-
fachen Verbindungen mit andern auftreten, auch stärkere Nerven-
stämme in sich zur Verbreitung bringen. Ueber das Einzelne der
Einrichtung dieser Bewegungsordner sind wir dagegen noch vollständig
ohne Kenntnisse. Schon bei der Betrachtung der Reflexbewegung
wurde hervorgehoben, dass man sie sich nicht als eine einfache, räum-
liche Gruppirung der Nervenröhren zu denken habe.

5. Veränderungen der Empfindungsorgane durch die
Muskeln oder Muskelnerven. Muskelsinn
. *) Die Mittheilungen,
welche der Seele vom jeweiligen Zustande der Muskeln zukommen,
äussern sich unter verschiedenen Formen.

a. Alle der Willkür unterworfenen Muskeln bringen das Be-
stehen und den Grad ihrer Zusammenziehung zum Bewusstsein
ohne jegliche Empfindung innerhalb der bewegten Mus-
keln
. Dieses Bewusstsein äussert sich entweder unmittelbar als
Vorstellung von der Stellung der Glieder, oder noch häufiger als eine
Modifikation unserer aus anderweitigen Erfahrungen gezogenen
Urtheile. — Solche Erscheinungen finden sich ausgesprochen

Im Tastsinn. α) Die Form eines Körpers wird uns nur dann zur
Vorstellung, wenn wir mit den beweglichen Gliedern, auf denen tas-
tende Flächen sich befinden, die Form umgreifen. Dass hier die
Muskelbewegung das Urtheil der Form wesentlich bedingt, ergibt
sich sogleich von selbst, wenn man bedenkt, dass den tastenden Flä-
chen beim Umgreifen eines Cylinders, Viereckes etc. mit den Fingern
selbst kein Unterschied in der Empfindung zu Theil werden
kann. — β) Wir beurtheilen aus unseren Bewegungen und aus
dem veränderlichen Drucke, welchen tastende Flächen von wider-
standleistenden Körpern erfahren, die Richtung, in welcher ein Wider-
stand oder ein Zug auf unsern Organismus wirkt; so z. B. aus Bewe-
gungen des Kopfes die Zugrichtung, welche auf unsere Haare
ausgeübt wird; E. H. Weber. — γ) Wir schätzen die Länge eines in
der Hand u. s. w. gehaltenen, und gegen eine unbewegliche Unter-
lage festgestemmten Gegenstandes aus dem Umfang der Muskel-
zusammenziehung, die nothwendig ist um ihn um gleiche Winkel
in ein und derselben Ebene zu drehen etc. —

Im Gesichtssinn. α) In das Urtheil über die Stellung der ge-
sehenen Gegenstände zum Horizont geht die Vorstellung über die
Lage des Rumpfes und Kopfes mit ein, wie dies unwiderleglich
dadurch bewiesen wird, dass dieselben Netzhautfasern, die von einem
Nachbild eingenommen sind, uns beim Aufrechtstehen des Kopfes
senkrecht und beim Biegen des Kopfes wagrecht gelagert erschei-
nen. (Rüte). — β. Die scheinbare Grösse des gesehenen Objekts ist

*) E. H. Weber, Tastsinn in Wagners Handwörterbuch III. b.
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[359/0373] Muskelsinn. che sich zu den Muskeln begeben, die an einer Gruppe von Bewegun- gen betheiligt sind; und endlich dass Muskeln, welche in sehr viel- fachen Verbindungen mit andern auftreten, auch stärkere Nerven- stämme in sich zur Verbreitung bringen. Ueber das Einzelne der Einrichtung dieser Bewegungsordner sind wir dagegen noch vollständig ohne Kenntnisse. Schon bei der Betrachtung der Reflexbewegung wurde hervorgehoben, dass man sie sich nicht als eine einfache, räum- liche Gruppirung der Nervenröhren zu denken habe. 5. Veränderungen der Empfindungsorgane durch die Muskeln oder Muskelnerven. Muskelsinn. *) Die Mittheilungen, welche der Seele vom jeweiligen Zustande der Muskeln zukommen, äussern sich unter verschiedenen Formen. a. Alle der Willkür unterworfenen Muskeln bringen das Be- stehen und den Grad ihrer Zusammenziehung zum Bewusstsein ohne jegliche Empfindung innerhalb der bewegten Mus- keln. Dieses Bewusstsein äussert sich entweder unmittelbar als Vorstellung von der Stellung der Glieder, oder noch häufiger als eine Modifikation unserer aus anderweitigen Erfahrungen gezogenen Urtheile. — Solche Erscheinungen finden sich ausgesprochen Im Tastsinn. α) Die Form eines Körpers wird uns nur dann zur Vorstellung, wenn wir mit den beweglichen Gliedern, auf denen tas- tende Flächen sich befinden, die Form umgreifen. Dass hier die Muskelbewegung das Urtheil der Form wesentlich bedingt, ergibt sich sogleich von selbst, wenn man bedenkt, dass den tastenden Flä- chen beim Umgreifen eines Cylinders, Viereckes etc. mit den Fingern selbst kein Unterschied in der Empfindung zu Theil werden kann. — β) Wir beurtheilen aus unseren Bewegungen und aus dem veränderlichen Drucke, welchen tastende Flächen von wider- standleistenden Körpern erfahren, die Richtung, in welcher ein Wider- stand oder ein Zug auf unsern Organismus wirkt; so z. B. aus Bewe- gungen des Kopfes die Zugrichtung, welche auf unsere Haare ausgeübt wird; E. H. Weber. — γ) Wir schätzen die Länge eines in der Hand u. s. w. gehaltenen, und gegen eine unbewegliche Unter- lage festgestemmten Gegenstandes aus dem Umfang der Muskel- zusammenziehung, die nothwendig ist um ihn um gleiche Winkel in ein und derselben Ebene zu drehen etc. — Im Gesichtssinn. α) In das Urtheil über die Stellung der ge- sehenen Gegenstände zum Horizont geht die Vorstellung über die Lage des Rumpfes und Kopfes mit ein, wie dies unwiderleglich dadurch bewiesen wird, dass dieselben Netzhautfasern, die von einem Nachbild eingenommen sind, uns beim Aufrechtstehen des Kopfes senkrecht und beim Biegen des Kopfes wagrecht gelagert erschei- nen. (Rüte). — β. Die scheinbare Grösse des gesehenen Objekts ist *) E. H. Weber, Tastsinn in Wagners Handwörterbuch III. b.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 359. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/373>, abgerufen am 25.04.2024.