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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Drucksinn; Hilfe der Muskeln.

4. Drucksinn bezeichnet die Leistung unserer Tastorgane
unmittelbar aus der Empfindung, eine Vorstellung über den Grad
der Zusammenpressung oder Ausdehnung, den unsere Haut durch
ein mechanisch wirkendes Mittel erfährt, zu erzeugen. Dieses
Vermögen äussert sich an verschiedenen Parthien der Haut nicht
so wechselvoll wie der Ortsinn. Die empfindlichsten Hautstellen
wie die Fingerspitzen unterscheiden noch einen Druckunterschied
eines Gewichtes von 20 : 19,2 Unzen, während der Vorderarm einen
solchen von 20 : 18,7 empfindet.

Weber prüfte die Feinheit des Drucksinns dadurch, dass er auf die Haut eines
Körpertheiles, der sehr gut unterstützt wurde, Gewichte von gleicher Grundfläche,
z. B. Geldstücke, auflegte, diese entfernte und rasch durch neue ersetzte. Wenn die Zeit,
welche zwischen dem Auflegen von einem Gewichte verstrich, hinreichend gering ist,
so gelingt es auf diese Weise viel unbedeutendere Gewichtsunterschiede zu empfin-
den, als dadurch, dass man auf verschiedenen Hautstellen gleichzeitig oder nach-
einander Gewichte auflegt. -- Das Vermögen, auf derselben Hautstelle die Stärke
eines nicht mehr vorhandenen mit der eines noch bestehenden Erregungsmittels zu
vergleichen, nimmt für kleine Gewichtsdifferenzen mit der Zeit rascher ab, als für
grössere. So nahm Weber den Gewichtsunterschied von 14 (oder 14,5) zu 15
Unzen nur dann wahr, wenn zwischen dem Aufliegen beider kein grösserer Zeitraum
als der von 30 Sekunden verstrichen war. Verhielten sich die Gewichte wie 4 : 5, so
konnte aber noch nach 90 Sekunden der Unterschied bestimmt werden. Ein Zug
an den Haaren wird bekanntlich ebenfalls mit grosser Genauigkeit auf seinen
Werth bestimmt.

Die Thatsache, dass an nervenreichen Theilen das Unterscheidungsvermögen
für Drücke nicht oder nur weniges schärfer ist, als an nervenarmen, steht in noch
ungelösstem Widerspruch mit der Beobachtung, dass auf nervenreichen Theilen
schmerzerregende Mittel von gleicher Ausdehnung und Stärke viel intensiver wirken
als auf nervenarmen.

Die schon durch ihren Nervenreichthum bevorzugten Organe,
Fingerspitzen, Lippen und Zunge sind endlich, zur Vervollkommnung
ihres Vermögens Form und Druck zu empfinden, noch mit einer gros-
sen Beweglichkeit versehen; hierdurch erwächst begreiflich der Vor-
theil, dass durch Anschmiegen an die betasteten Flächen, durch will-
kürliches Hin- und Herführen über dieselben, ihre Form, Grösse, Wi-
derstand einzelner Parthien etc. sehr genau bestimmt werden kann.
Die Genauigkeit der Vorstellung die aus der Auflagerung der nerven-
reichen Hautstellen auf sehr bewegliche Organe erwächst, steigert
sich aber noch um ein beträchtliches dadurch, dass die Zusammen-
ziehungen der hier in Betracht kommenden Muskeln ebenfalls auf ir-
gend welche, in ihrem Mechanismus noch näher zu bestimmende
Weise dem Grade nach von der Seele geschätzt oder empfunden wer-
den. Aus diesem Zusammenhalten der zum Angreifen eines Körpers
nöthigen Bewegung, oder der zu seiner Fortbewegung nöthigen Mus-
kelanstrengung und der diese Bewegungen begleitenden Empfin-
dungen in der Haut, entstehen eine Zahl sehr complizirter Urtheile. Es
beziehen sich diese auf die Richtung und Stärke eines Widerstan-

Drucksinn; Hilfe der Muskeln.

4. Drucksinn bezeichnet die Leistung unserer Tastorgane
unmittelbar aus der Empfindung, eine Vorstellung über den Grad
der Zusammenpressung oder Ausdehnung, den unsere Haut durch
ein mechanisch wirkendes Mittel erfährt, zu erzeugen. Dieses
Vermögen äussert sich an verschiedenen Parthien der Haut nicht
so wechselvoll wie der Ortsinn. Die empfindlichsten Hautstellen
wie die Fingerspitzen unterscheiden noch einen Druckunterschied
eines Gewichtes von 20 : 19,2 Unzen, während der Vorderarm einen
solchen von 20 : 18,7 empfindet.

Weber prüfte die Feinheit des Drucksinns dadurch, dass er auf die Haut eines
Körpertheiles, der sehr gut unterstützt wurde, Gewichte von gleicher Grundfläche,
z. B. Geldstücke, auflegte, diese entfernte und rasch durch neue ersetzte. Wenn die Zeit,
welche zwischen dem Auflegen von einem Gewichte verstrich, hinreichend gering ist,
so gelingt es auf diese Weise viel unbedeutendere Gewichtsunterschiede zu empfin-
den, als dadurch, dass man auf verschiedenen Hautstellen gleichzeitig oder nach-
einander Gewichte auflegt. — Das Vermögen, auf derselben Hautstelle die Stärke
eines nicht mehr vorhandenen mit der eines noch bestehenden Erregungsmittels zu
vergleichen, nimmt für kleine Gewichtsdifferenzen mit der Zeit rascher ab, als für
grössere. So nahm Weber den Gewichtsunterschied von 14 (oder 14,5) zu 15
Unzen nur dann wahr, wenn zwischen dem Aufliegen beider kein grösserer Zeitraum
als der von 30 Sekunden verstrichen war. Verhielten sich die Gewichte wie 4 : 5, so
konnte aber noch nach 90 Sekunden der Unterschied bestimmt werden. Ein Zug
an den Haaren wird bekanntlich ebenfalls mit grosser Genauigkeit auf seinen
Werth bestimmt.

Die Thatsache, dass an nervenreichen Theilen das Unterscheidungsvermögen
für Drücke nicht oder nur weniges schärfer ist, als an nervenarmen, steht in noch
ungelösstem Widerspruch mit der Beobachtung, dass auf nervenreichen Theilen
schmerzerregende Mittel von gleicher Ausdehnung und Stärke viel intensiver wirken
als auf nervenarmen.

Die schon durch ihren Nervenreichthum bevorzugten Organe,
Fingerspitzen, Lippen und Zunge sind endlich, zur Vervollkommnung
ihres Vermögens Form und Druck zu empfinden, noch mit einer gros-
sen Beweglichkeit versehen; hierdurch erwächst begreiflich der Vor-
theil, dass durch Anschmiegen an die betasteten Flächen, durch will-
kürliches Hin- und Herführen über dieselben, ihre Form, Grösse, Wi-
derstand einzelner Parthien etc. sehr genau bestimmt werden kann.
Die Genauigkeit der Vorstellung die aus der Auflagerung der nerven-
reichen Hautstellen auf sehr bewegliche Organe erwächst, steigert
sich aber noch um ein beträchtliches dadurch, dass die Zusammen-
ziehungen der hier in Betracht kommenden Muskeln ebenfalls auf ir-
gend welche, in ihrem Mechanismus noch näher zu bestimmende
Weise dem Grade nach von der Seele geschätzt oder empfunden wer-
den. Aus diesem Zusammenhalten der zum Angreifen eines Körpers
nöthigen Bewegung, oder der zu seiner Fortbewegung nöthigen Mus-
kelanstrengung und der diese Bewegungen begleitenden Empfin-
dungen in der Haut, entstehen eine Zahl sehr complizirter Urtheile. Es
beziehen sich diese auf die Richtung und Stärke eines Widerstan-

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[308/0322] Drucksinn; Hilfe der Muskeln. 4. Drucksinn bezeichnet die Leistung unserer Tastorgane unmittelbar aus der Empfindung, eine Vorstellung über den Grad der Zusammenpressung oder Ausdehnung, den unsere Haut durch ein mechanisch wirkendes Mittel erfährt, zu erzeugen. Dieses Vermögen äussert sich an verschiedenen Parthien der Haut nicht so wechselvoll wie der Ortsinn. Die empfindlichsten Hautstellen wie die Fingerspitzen unterscheiden noch einen Druckunterschied eines Gewichtes von 20 : 19,2 Unzen, während der Vorderarm einen solchen von 20 : 18,7 empfindet. Weber prüfte die Feinheit des Drucksinns dadurch, dass er auf die Haut eines Körpertheiles, der sehr gut unterstützt wurde, Gewichte von gleicher Grundfläche, z. B. Geldstücke, auflegte, diese entfernte und rasch durch neue ersetzte. Wenn die Zeit, welche zwischen dem Auflegen von einem Gewichte verstrich, hinreichend gering ist, so gelingt es auf diese Weise viel unbedeutendere Gewichtsunterschiede zu empfin- den, als dadurch, dass man auf verschiedenen Hautstellen gleichzeitig oder nach- einander Gewichte auflegt. — Das Vermögen, auf derselben Hautstelle die Stärke eines nicht mehr vorhandenen mit der eines noch bestehenden Erregungsmittels zu vergleichen, nimmt für kleine Gewichtsdifferenzen mit der Zeit rascher ab, als für grössere. So nahm Weber den Gewichtsunterschied von 14 (oder 14,5) zu 15 Unzen nur dann wahr, wenn zwischen dem Aufliegen beider kein grösserer Zeitraum als der von 30 Sekunden verstrichen war. Verhielten sich die Gewichte wie 4 : 5, so konnte aber noch nach 90 Sekunden der Unterschied bestimmt werden. Ein Zug an den Haaren wird bekanntlich ebenfalls mit grosser Genauigkeit auf seinen Werth bestimmt. Die Thatsache, dass an nervenreichen Theilen das Unterscheidungsvermögen für Drücke nicht oder nur weniges schärfer ist, als an nervenarmen, steht in noch ungelösstem Widerspruch mit der Beobachtung, dass auf nervenreichen Theilen schmerzerregende Mittel von gleicher Ausdehnung und Stärke viel intensiver wirken als auf nervenarmen. Die schon durch ihren Nervenreichthum bevorzugten Organe, Fingerspitzen, Lippen und Zunge sind endlich, zur Vervollkommnung ihres Vermögens Form und Druck zu empfinden, noch mit einer gros- sen Beweglichkeit versehen; hierdurch erwächst begreiflich der Vor- theil, dass durch Anschmiegen an die betasteten Flächen, durch will- kürliches Hin- und Herführen über dieselben, ihre Form, Grösse, Wi- derstand einzelner Parthien etc. sehr genau bestimmt werden kann. Die Genauigkeit der Vorstellung die aus der Auflagerung der nerven- reichen Hautstellen auf sehr bewegliche Organe erwächst, steigert sich aber noch um ein beträchtliches dadurch, dass die Zusammen- ziehungen der hier in Betracht kommenden Muskeln ebenfalls auf ir- gend welche, in ihrem Mechanismus noch näher zu bestimmende Weise dem Grade nach von der Seele geschätzt oder empfunden wer- den. Aus diesem Zusammenhalten der zum Angreifen eines Körpers nöthigen Bewegung, oder der zu seiner Fortbewegung nöthigen Mus- kelanstrengung und der diese Bewegungen begleitenden Empfin- dungen in der Haut, entstehen eine Zahl sehr complizirter Urtheile. Es beziehen sich diese auf die Richtung und Stärke eines Widerstan-

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 308. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/322>, abgerufen am 25.04.2024.