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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Organische Bedingungen der zugeordneten Netzhautpunkte.

Dieser letzten Angabe fügt man noch die genauere Bestimmung
bei, dass die symmetrisch um die Netzhautpole gelegenen Theile iden-
tisch seien, so dass an der horizontalen Durchschnittsebene derselben
die zugeordneten Punkte in dem einen Auge um so viel Grade nach
aussen gelegen seien, als sie am andern nach innen sich vorfinden,
während in dem senkrechten Durchschnitt die identischen Punkte bei-
der Augen um gleichviel Grade nach oben oder unten abweichen.
Diese Angabe bedarf aber noch der genaueren Bestätigung; sie läuft
darauf hinaus, dass der Horopter ein Kugelmantel ist.

Man ist nun aber nicht stehen geblieben bei diesen Thatsachen,
sondern hat auch noch weiter zu ermitteln gesucht, durch welche Ein-
richtungen die Anwesenheit der identischen Netzhautpunkte bedingt
sein möchte. Die zahlreichen Erklärungsversuche, die man bis dahin
aufstellte, lassen sich unter zwei obersten Gesichtspunkten zusammen-
fassen. Die eine Reihe von Hypothesen setzt nämlich voraus, dass
zwischen Retina und Empfindungsorganen des Hirns am Sehnerven
anatomische Einrichtungen -- z. B. in dem Chiasma nervor. optic. --
vorhanden seien, vermöge welcher zwei von der Nervenausbreitung
herdringende räumlich gesonderte Erregungen zu einer mittleren
verschmolzen würden, die dann erst zur Empfindung kommen. Die
andere Hypothesengruppe verwirft die Gegenwart einer solchen
Hilfsvorrichtung und behauptet, dass die räumlich gesonderte Erre-
gung auch gesondert bis zum Empfindungsorgan vordringe um dort
erst verschmolzen zu werden. Die Thatsachen erscheinen vorerst
noch zu verwickelt, um schon jezt für die eine oder andere Vorstel-
lung benutzt werden zu können.

Die Beobachtungen, welche für die erstere der beiden Annahmen sprechen, be-
stehen darin, dass zwei Farben sich zur Mischfarbe vereinigen, wenn sie gesondert
die identischen Netzhautstellen der beiden Augen treffen; Dove, Regnault. Dieser
Versuch gelingt jedoch nicht immer; Dove gibt als eine der Bedingungen des Ge-
lingens an, dass man prismatische Farben und keine Pigmente benutzen müsse.
Für mein Auge gelingt es auch mit Pigmenten, indem mir die Empfindung des weissen
entsteht, wenn ich mit dem einen Auge gelb und mit dem andern blau sehe. -- Für
die andere Meinung kann man dagegen anführen, dass wenn wir gleichzetig vor jedes
Auge eine Röhre halten, und durch diese beliebige aber verschieden gestaltete
Gegenstände sehen, die beiden Bilder derselben als sich deckende in demselben
Raume befindliche empfunden werden, so dass die identischen Netzhautstellen nur
die Empfindung des gemeinsamen Ortes aber nicht des gemeinsamen Inhaltes (des
mittlern Eindrucks aus den beiden gesonderten) angeben. -- Aehnlich verhalten sich
auch die Augen vielen Farben gegenüber. So sieht man z. B., wenn man denselben
Gegenstand mit zwei Augen betrachtet, während man vor dieselben verschiedenfar-
bigen Gläser setzt, diesen Gegenstand nicht in der Mischfarbe beider Gläser, sondern
entweder nur in der des einen Glases, oder wechselnd bald in dieser bald in jener
(Wettstreit der Sehfelder).

b) Doppeltsehen. Aus der Lehre von den zugeordneten Seh-
punkten ergibt sich nun mit Nothwendigkeit, dass ein und derselbe
Gegenstand, welcher sein Bild auf nicht identische Stellen des Auges

Organische Bedingungen der zugeordneten Netzhautpunkte.

Dieser letzten Angabe fügt man noch die genauere Bestimmung
bei, dass die symmetrisch um die Netzhautpole gelegenen Theile iden-
tisch seien, so dass an der horizontalen Durchschnittsebene derselben
die zugeordneten Punkte in dem einen Auge um so viel Grade nach
aussen gelegen seien, als sie am andern nach innen sich vorfinden,
während in dem senkrechten Durchschnitt die identischen Punkte bei-
der Augen um gleichviel Grade nach oben oder unten abweichen.
Diese Angabe bedarf aber noch der genaueren Bestätigung; sie läuft
darauf hinaus, dass der Horopter ein Kugelmantel ist.

Man ist nun aber nicht stehen geblieben bei diesen Thatsachen,
sondern hat auch noch weiter zu ermitteln gesucht, durch welche Ein-
richtungen die Anwesenheit der identischen Netzhautpunkte bedingt
sein möchte. Die zahlreichen Erklärungsversuche, die man bis dahin
aufstellte, lassen sich unter zwei obersten Gesichtspunkten zusammen-
fassen. Die eine Reihe von Hypothesen setzt nämlich voraus, dass
zwischen Retina und Empfindungsorganen des Hirns am Sehnerven
anatomische Einrichtungen — z. B. in dem Chiasma nervor. optic. —
vorhanden seien, vermöge welcher zwei von der Nervenausbreitung
herdringende räumlich gesonderte Erregungen zu einer mittleren
verschmolzen würden, die dann erst zur Empfindung kommen. Die
andere Hypothesengruppe verwirft die Gegenwart einer solchen
Hilfsvorrichtung und behauptet, dass die räumlich gesonderte Erre-
gung auch gesondert bis zum Empfindungsorgan vordringe um dort
erst verschmolzen zu werden. Die Thatsachen erscheinen vorerst
noch zu verwickelt, um schon jezt für die eine oder andere Vorstel-
lung benutzt werden zu können.

Die Beobachtungen, welche für die erstere der beiden Annahmen sprechen, be-
stehen darin, dass zwei Farben sich zur Mischfarbe vereinigen, wenn sie gesondert
die identischen Netzhautstellen der beiden Augen treffen; Dove, Regnault. Dieser
Versuch gelingt jedoch nicht immer; Dove gibt als eine der Bedingungen des Ge-
lingens an, dass man prismatische Farben und keine Pigmente benutzen müsse.
Für mein Auge gelingt es auch mit Pigmenten, indem mir die Empfindung des weissen
entsteht, wenn ich mit dem einen Auge gelb und mit dem andern blau sehe. — Für
die andere Meinung kann man dagegen anführen, dass wenn wir gleichzetig vor jedes
Auge eine Röhre halten, und durch diese beliebige aber verschieden gestaltete
Gegenstände sehen, die beiden Bilder derselben als sich deckende in demselben
Raume befindliche empfunden werden, so dass die identischen Netzhautstellen nur
die Empfindung des gemeinsamen Ortes aber nicht des gemeinsamen Inhaltes (des
mittlern Eindrucks aus den beiden gesonderten) angeben. — Aehnlich verhalten sich
auch die Augen vielen Farben gegenüber. So sieht man z. B., wenn man denselben
Gegenstand mit zwei Augen betrachtet, während man vor dieselben verschiedenfar-
bigen Gläser setzt, diesen Gegenstand nicht in der Mischfarbe beider Gläser, sondern
entweder nur in der des einen Glases, oder wechselnd bald in dieser bald in jener
(Wettstreit der Sehfelder).

β) Doppeltsehen. Aus der Lehre von den zugeordneten Seh-
punkten ergibt sich nun mit Nothwendigkeit, dass ein und derselbe
Gegenstand, welcher sein Bild auf nicht identische Stellen des Auges

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[247/0261] Organische Bedingungen der zugeordneten Netzhautpunkte. Dieser letzten Angabe fügt man noch die genauere Bestimmung bei, dass die symmetrisch um die Netzhautpole gelegenen Theile iden- tisch seien, so dass an der horizontalen Durchschnittsebene derselben die zugeordneten Punkte in dem einen Auge um so viel Grade nach aussen gelegen seien, als sie am andern nach innen sich vorfinden, während in dem senkrechten Durchschnitt die identischen Punkte bei- der Augen um gleichviel Grade nach oben oder unten abweichen. Diese Angabe bedarf aber noch der genaueren Bestätigung; sie läuft darauf hinaus, dass der Horopter ein Kugelmantel ist. Man ist nun aber nicht stehen geblieben bei diesen Thatsachen, sondern hat auch noch weiter zu ermitteln gesucht, durch welche Ein- richtungen die Anwesenheit der identischen Netzhautpunkte bedingt sein möchte. Die zahlreichen Erklärungsversuche, die man bis dahin aufstellte, lassen sich unter zwei obersten Gesichtspunkten zusammen- fassen. Die eine Reihe von Hypothesen setzt nämlich voraus, dass zwischen Retina und Empfindungsorganen des Hirns am Sehnerven anatomische Einrichtungen — z. B. in dem Chiasma nervor. optic. — vorhanden seien, vermöge welcher zwei von der Nervenausbreitung herdringende räumlich gesonderte Erregungen zu einer mittleren verschmolzen würden, die dann erst zur Empfindung kommen. Die andere Hypothesengruppe verwirft die Gegenwart einer solchen Hilfsvorrichtung und behauptet, dass die räumlich gesonderte Erre- gung auch gesondert bis zum Empfindungsorgan vordringe um dort erst verschmolzen zu werden. Die Thatsachen erscheinen vorerst noch zu verwickelt, um schon jezt für die eine oder andere Vorstel- lung benutzt werden zu können. Die Beobachtungen, welche für die erstere der beiden Annahmen sprechen, be- stehen darin, dass zwei Farben sich zur Mischfarbe vereinigen, wenn sie gesondert die identischen Netzhautstellen der beiden Augen treffen; Dove, Regnault. Dieser Versuch gelingt jedoch nicht immer; Dove gibt als eine der Bedingungen des Ge- lingens an, dass man prismatische Farben und keine Pigmente benutzen müsse. Für mein Auge gelingt es auch mit Pigmenten, indem mir die Empfindung des weissen entsteht, wenn ich mit dem einen Auge gelb und mit dem andern blau sehe. — Für die andere Meinung kann man dagegen anführen, dass wenn wir gleichzetig vor jedes Auge eine Röhre halten, und durch diese beliebige aber verschieden gestaltete Gegenstände sehen, die beiden Bilder derselben als sich deckende in demselben Raume befindliche empfunden werden, so dass die identischen Netzhautstellen nur die Empfindung des gemeinsamen Ortes aber nicht des gemeinsamen Inhaltes (des mittlern Eindrucks aus den beiden gesonderten) angeben. — Aehnlich verhalten sich auch die Augen vielen Farben gegenüber. So sieht man z. B., wenn man denselben Gegenstand mit zwei Augen betrachtet, während man vor dieselben verschiedenfar- bigen Gläser setzt, diesen Gegenstand nicht in der Mischfarbe beider Gläser, sondern entweder nur in der des einen Glases, oder wechselnd bald in dieser bald in jener (Wettstreit der Sehfelder). β) Doppeltsehen. Aus der Lehre von den zugeordneten Seh- punkten ergibt sich nun mit Nothwendigkeit, dass ein und derselbe Gegenstand, welcher sein Bild auf nicht identische Stellen des Auges

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 247. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/261>, abgerufen am 28.03.2024.