Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Schwierigkeit seiner Auffindung.
der einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch
das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel ge-
henden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene Lähmung des
Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thieren nur gar zu häufig
das Criterium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere
Art ursprünglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung,
als man sie bisher anzustellen gewöhnt war, überhaupt die den Durch-
schnitt des Nerven begleitende Lähmung übersehen werden können;
und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der
den Durchschnitt begleitenden Lähmung, den Verlauf der motorischen
Nervenröhren zu erschliessen sucht. -- c. Die Nervenröhren sind in
ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten
in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand
des Nerven dahin umzusetzen vermögen, dass der Nerv statt Zuk-
kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vor-
richtungen deren erregende Kräfte dazu verwendet werden den
schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven
die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer
direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Mus-
kels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden
Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf
diese eigenthümliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls
noch nicht aufmerksam genug gewesen. -- d. Die an den Individuen
einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen dürfen nicht
unmittelbar auch als gültig angesehen werden für diejenigen anderer
Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die
bisherigen physiologischen Versuche über das Hirn wenig lehrreich
waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben,
dass es eine ganz willkürliche Fiktion ist, aus äusserlicher Form-
ähnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine
functionelle Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. -- e. Zu
diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere
Reihe, welche eingeführt werden durch die Operationsmethoden,
Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht ge-
drungen hat; zu ihnen zählt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn-
parthieen zu gelangen, den Schädel öffnen, das Hirn abkühlen, Blutun-
gen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen
muss. Wie unmessbar sind diese Störungen. Endlich sind die bis jetzt
angewendeten Erregermethoden weder in ihrer räumlichen Verbreitung,
noch in ihrer Intensität abgestuft genug um Gewähr zu leisten, dass
man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Ap-
parat sich in unmittelbarer Berührung befand.

Wem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich
hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-

Schwierigkeit seiner Auffindung.
der einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch
das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel ge-
henden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene Lähmung des
Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thieren nur gar zu häufig
das Criterium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere
Art ursprünglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung,
als man sie bisher anzustellen gewöhnt war, überhaupt die den Durch-
schnitt des Nerven begleitende Lähmung übersehen werden können;
und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der
den Durchschnitt begleitenden Lähmung, den Verlauf der motorischen
Nervenröhren zu erschliessen sucht. — c. Die Nervenröhren sind in
ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten
in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand
des Nerven dahin umzusetzen vermögen, dass der Nerv statt Zuk-
kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vor-
richtungen deren erregende Kräfte dazu verwendet werden den
schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven
die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer
direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Mus-
kels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden
Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf
diese eigenthümliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls
noch nicht aufmerksam genug gewesen. — d. Die an den Individuen
einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen dürfen nicht
unmittelbar auch als gültig angesehen werden für diejenigen anderer
Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die
bisherigen physiologischen Versuche über das Hirn wenig lehrreich
waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben,
dass es eine ganz willkürliche Fiktion ist, aus äusserlicher Form-
ähnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine
functionelle Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. — e. Zu
diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere
Reihe, welche eingeführt werden durch die Operationsmethoden,
Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht ge-
drungen hat; zu ihnen zählt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn-
parthieen zu gelangen, den Schädel öffnen, das Hirn abkühlen, Blutun-
gen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen
muss. Wie unmessbar sind diese Störungen. Endlich sind die bis jetzt
angewendeten Erregermethoden weder in ihrer räumlichen Verbreitung,
noch in ihrer Intensität abgestuft genug um Gewähr zu leisten, dass
man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Ap-
parat sich in unmittelbarer Berührung befand.

Wem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich
hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0179" n="165"/><fw place="top" type="header">Schwierigkeit seiner Auffindung.</fw><lb/>
der einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch<lb/>
das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel ge-<lb/>
henden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene Lähmung des<lb/>
Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thieren nur gar zu häufig<lb/>
das Criterium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere<lb/>
Art ursprünglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung,<lb/>
als man sie bisher anzustellen gewöhnt war, überhaupt die den Durch-<lb/>
schnitt des Nerven begleitende Lähmung übersehen werden können;<lb/>
und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der<lb/>
den Durchschnitt begleitenden Lähmung, den Verlauf der motorischen<lb/>
Nervenröhren zu erschliessen sucht. &#x2014; c. Die Nervenröhren sind in<lb/>
ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten<lb/>
in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand<lb/>
des Nerven dahin umzusetzen vermögen, dass der Nerv statt Zuk-<lb/>
kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vor-<lb/>
richtungen deren erregende Kräfte dazu verwendet werden den<lb/>
schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven<lb/>
die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer<lb/>
direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Mus-<lb/>
kels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden<lb/>
Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf<lb/>
diese eigenthümliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls<lb/>
noch nicht aufmerksam genug gewesen. &#x2014; d. Die an den Individuen<lb/>
einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen dürfen nicht<lb/>
unmittelbar auch als gültig angesehen werden für diejenigen anderer<lb/>
Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die<lb/>
bisherigen physiologischen Versuche über das Hirn wenig lehrreich<lb/>
waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben,<lb/>
dass es eine ganz willkürliche Fiktion ist, aus äusserlicher Form-<lb/>
ähnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine<lb/>
functionelle Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. &#x2014; e. Zu<lb/>
diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere<lb/>
Reihe, welche eingeführt werden durch die Operationsmethoden,<lb/>
Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht ge-<lb/>
drungen hat; zu ihnen zählt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn-<lb/>
parthieen zu gelangen, den Schädel öffnen, das Hirn abkühlen, Blutun-<lb/>
gen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen<lb/>
muss. Wie unmessbar sind diese Störungen. Endlich sind die bis jetzt<lb/>
angewendeten Erregermethoden weder in ihrer räumlichen Verbreitung,<lb/>
noch in ihrer Intensität abgestuft genug um Gewähr zu leisten, dass<lb/>
man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Ap-<lb/>
parat sich in unmittelbarer Berührung befand.</p><lb/>
            <p>Wem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich<lb/>
hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[165/0179] Schwierigkeit seiner Auffindung. der einen wie aus der andern Anordnung, dass Durchschnitte durch das Hirn, welche selbst einen oder den andern zu einem Muskel ge- henden Nerven treffen, dennoch keine vollkommene Lähmung des Muskels erwirken. Weil uns nun aber bei Thieren nur gar zu häufig das Criterium fehlt, ob eine Bewegung auf die eine oder die andere Art ursprünglich erregt sei, so wird ohne eine genauere Untersuchung, als man sie bisher anzustellen gewöhnt war, überhaupt die den Durch- schnitt des Nerven begleitende Lähmung übersehen werden können; und somit erweist sich auch der Versuch zweifelhaft, welcher aus der den Durchschnitt begleitenden Lähmung, den Verlauf der motorischen Nervenröhren zu erschliessen sucht. — c. Die Nervenröhren sind in ihrem Verlauf durch das Hirn nun offenbar auch mit solchen Apparaten in Verbindung, welche den erregten zuckungerzeugenden Zustand des Nerven dahin umzusetzen vermögen, dass der Nerv statt Zuk- kung Muskelruhe erzeugt; mit andern Worten, es gibt im Hirn Vor- richtungen deren erregende Kräfte dazu verwendet werden den schon anderweitig erregten Nerven zu beruhigen. Alle Nerven die in einen solchen Apparat eingehen, werden aber in Folge ihrer direkten Erregung Erschlaffung eines zusammengezogenen Mus- kels und umgekehrt nach ihrem Durchschneiden am passenden Orte Zusammenziehung eines erschlafften Muskels erzeugen. Auf diese eigenthümliche Stellung des Nerven ist man bis dahin ebenfalls noch nicht aufmerksam genug gewesen. — d. Die an den Individuen einer Species oder Gattung gewonnenen Thatsachen dürfen nicht unmittelbar auch als gültig angesehen werden für diejenigen anderer Familien oder gar anderer Classen von Thieren. Denn wenn auch die bisherigen physiologischen Versuche über das Hirn wenig lehrreich waren, so haben sie uns doch mindestens die Versicherung gegeben, dass es eine ganz willkürliche Fiktion ist, aus äusserlicher Form- ähnlichkeit gewisser Hirntheile bei verschiedenen Thieren auf eine functionelle Gleichartigkeit derselben schliessen zu wollen. — e. Zu diesen im Hirnbau liegenden Schwierigkeiten kommt nun eine andere Reihe, welche eingeführt werden durch die Operationsmethoden, Schwierigkeiten, auf deren Beseitigung man bis heute noch nicht ge- drungen hat; zu ihnen zählt, dass man, um zu tiefer gelegenen Hirn- parthieen zu gelangen, den Schädel öffnen, das Hirn abkühlen, Blutun- gen erzeugen und anderseits den Kreislauf des Blutes unterbrechen muss. Wie unmessbar sind diese Störungen. Endlich sind die bis jetzt angewendeten Erregermethoden weder in ihrer räumlichen Verbreitung, noch in ihrer Intensität abgestuft genug um Gewähr zu leisten, dass man nur die Nervenmassen erregt habe, mit denen der erregende Ap- parat sich in unmittelbarer Berührung befand. Wem die zahllosen Schwierigkeiten vor Augen treten, welche sich hier der Untersuchung entgegen werfen, und wer, im Geiste den wun-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/179
Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 165. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/179>, abgerufen am 28.03.2024.