Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

Mitbewegung.
einleuchtender, als es in der That durch Uebung gelingt, Bewegungen,
die der Wille früher immer gemeinsam ausführte, voneinander zu son-
dern. 2. An das Eintreten einer unwillkürlichen Bewegung knüpft
sich häufig eine andere unwillkürliche, ohne dass es gelänge nach-
zuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine geson-
derte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet
man namentlich öfter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen,
deren eine Körperhälfte durch Blutergüsse in das Hirn dem Willens-
einfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet öfter das Gähnen,
Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem
Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich würden diese
Thatsachen aber nur dann für Mitbewegung sprechen, wenn man dar-
zuthun vermöchte, dass die das Gähnen u. s. w. veranlassende Ur-
sache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte;
denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es
erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu subsummiren,
umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen,
zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die
Fälle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere
normal oder abnorm unwillkürlich bewegliche Muskeln in Thätigkeit
kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von will-
kürlichen Bewegungen der nicht gelähmten Glieder gleichzeitig Be-
wegungen in der gelähmten, dem Willen vollkommen entzogenen
Körperhälfte. Einige den erwähnten sehr analogen Beobachtungen aus
dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunk-
tionen noch vorführen. -- An diese Beobachtungen schliessen sich
dann noch mehrere (weniger zuverlässige?) Ergebnisse der Versuche
beim Säugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung
einer seitl. Rückenmarkshälfte in ihren obern an das verlängerte Mark
grenzenden Theilen eine Lähmung der entsprechenden Körperhälfte her-
beigeführt hatte, die Glieder der gelähmten Seite bei energischen Bewe-
gungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gelähmten
Hälfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen würden unzweifelhaft das
Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen,
wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinflüsse her-
beigeführten Erregungen zweifellos festständen, und wenn wir den nur
einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das Rückenmark des
Säugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten könnten wie wir ihn
beim Frosch zu verneinen vermögen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass
der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primi-
tivröhren anregt? und wenn in der That solche Zwischenorgane vor-
handen, wie ändern sie sich bei sog. einseitigen Lähmungen? Man
würde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwer-
fen, wenn nicht 4. durch eine überwiegende Zahl von Beobachtungen

Mitbewegung.
einleuchtender, als es in der That durch Uebung gelingt, Bewegungen,
die der Wille früher immer gemeinsam ausführte, voneinander zu son-
dern. 2. An das Eintreten einer unwillkürlichen Bewegung knüpft
sich häufig eine andere unwillkürliche, ohne dass es gelänge nach-
zuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine geson-
derte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet
man namentlich öfter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen,
deren eine Körperhälfte durch Blutergüsse in das Hirn dem Willens-
einfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet öfter das Gähnen,
Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem
Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich würden diese
Thatsachen aber nur dann für Mitbewegung sprechen, wenn man dar-
zuthun vermöchte, dass die das Gähnen u. s. w. veranlassende Ur-
sache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte;
denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es
erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu subsummiren,
umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen,
zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die
Fälle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere
normal oder abnorm unwillkürlich bewegliche Muskeln in Thätigkeit
kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von will-
kürlichen Bewegungen der nicht gelähmten Glieder gleichzeitig Be-
wegungen in der gelähmten, dem Willen vollkommen entzogenen
Körperhälfte. Einige den erwähnten sehr analogen Beobachtungen aus
dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunk-
tionen noch vorführen. — An diese Beobachtungen schliessen sich
dann noch mehrere (weniger zuverlässige?) Ergebnisse der Versuche
beim Säugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung
einer seitl. Rückenmarkshälfte in ihren obern an das verlängerte Mark
grenzenden Theilen eine Lähmung der entsprechenden Körperhälfte her-
beigeführt hatte, die Glieder der gelähmten Seite bei energischen Bewe-
gungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gelähmten
Hälfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen würden unzweifelhaft das
Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen,
wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinflüsse her-
beigeführten Erregungen zweifellos festständen, und wenn wir den nur
einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das Rückenmark des
Säugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten könnten wie wir ihn
beim Frosch zu verneinen vermögen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass
der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primi-
tivröhren anregt? und wenn in der That solche Zwischenorgane vor-
handen, wie ändern sie sich bei sog. einseitigen Lähmungen? Man
würde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwer-
fen, wenn nicht 4. durch eine überwiegende Zahl von Beobachtungen

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0160" n="146"/><fw place="top" type="header">Mitbewegung.</fw><lb/>
einleuchtender, als es in der That durch Uebung gelingt, Bewegungen,<lb/>
die der Wille früher immer gemeinsam ausführte, voneinander zu son-<lb/>
dern. 2. An das Eintreten einer unwillkürlichen Bewegung knüpft<lb/>
sich häufig eine andere unwillkürliche, ohne dass es gelänge nach-<lb/>
zuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine geson-<lb/>
derte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet<lb/>
man namentlich öfter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen,<lb/>
deren eine Körperhälfte durch Blutergüsse in das Hirn dem Willens-<lb/>
einfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet öfter das Gähnen,<lb/>
Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem<lb/>
Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich würden diese<lb/>
Thatsachen aber nur dann für Mitbewegung sprechen, wenn man dar-<lb/>
zuthun vermöchte, dass die das Gähnen u. s. w. veranlassende Ur-<lb/>
sache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte;<lb/>
denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es<lb/>
erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu subsummiren,<lb/>
umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen,<lb/>
zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die<lb/>
Fälle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere<lb/>
normal oder abnorm unwillkürlich bewegliche Muskeln in Thätigkeit<lb/>
kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von will-<lb/>
kürlichen Bewegungen der nicht gelähmten Glieder gleichzeitig Be-<lb/>
wegungen in der gelähmten, dem Willen vollkommen entzogenen<lb/>
Körperhälfte. Einige den erwähnten sehr analogen Beobachtungen aus<lb/>
dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunk-<lb/>
tionen noch vorführen. &#x2014; An diese Beobachtungen schliessen sich<lb/>
dann noch mehrere (weniger zuverlässige?) Ergebnisse der Versuche<lb/>
beim Säugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung<lb/>
einer seitl. Rückenmarkshälfte in ihren obern an das verlängerte Mark<lb/>
grenzenden Theilen eine Lähmung der entsprechenden Körperhälfte her-<lb/>
beigeführt hatte, die Glieder der gelähmten Seite bei energischen Bewe-<lb/>
gungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gelähmten<lb/>
Hälfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen würden unzweifelhaft das<lb/>
Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen,<lb/>
wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinflüsse her-<lb/>
beigeführten Erregungen zweifellos festständen, und wenn wir den nur<lb/>
einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das Rückenmark des<lb/>
Säugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten könnten wie wir ihn<lb/>
beim Frosch zu verneinen vermögen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass<lb/>
der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primi-<lb/>
tivröhren anregt? und wenn in der That solche Zwischenorgane vor-<lb/>
handen, wie ändern sie sich bei sog. einseitigen Lähmungen? Man<lb/>
würde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwer-<lb/>
fen, wenn nicht 4. durch eine überwiegende Zahl von Beobachtungen<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[146/0160] Mitbewegung. einleuchtender, als es in der That durch Uebung gelingt, Bewegungen, die der Wille früher immer gemeinsam ausführte, voneinander zu son- dern. 2. An das Eintreten einer unwillkürlichen Bewegung knüpft sich häufig eine andere unwillkürliche, ohne dass es gelänge nach- zuweisen, es habe auf beide bewegte Theile gleichzeitig eine geson- derte Erregungsursache gewirkt. Diese Erscheinung beobachtet man namentlich öfter bei Hemiplegischen, d. h. bei solchen Individuen, deren eine Körperhälfte durch Blutergüsse in das Hirn dem Willens- einfluss entzogen ist; bei diesen Kranken begleitet öfter das Gähnen, Niessen, Husten die Bewegung eines Beins oder Arms an der dem Willen nicht mehr untergebenen Seite. Begreiflich würden diese Thatsachen aber nur dann für Mitbewegung sprechen, wenn man dar- zuthun vermöchte, dass die das Gähnen u. s. w. veranlassende Ur- sache nur auf den motorischen Nerven des Kiefers u. s. w. wirkte; denn verbreitet sich die Erregung auch in sensible Nerven, so ist es erlaubt den vorliegenden Fall auch unter die Reflexe zu subsummiren, umsomehr als Glieder, die dem Seeleneinfluss nicht mehr gehorchen, zu Reflexen geneigt sind. 3. Anscheinend viel beweisender sind die Fälle, wo auf eine vom Willen ausgehende Bewegung auch andere normal oder abnorm unwillkürlich bewegliche Muskeln in Thätigkeit kommen. So erscheinen z. B. bei Hemiplegischen in Folge von will- kürlichen Bewegungen der nicht gelähmten Glieder gleichzeitig Be- wegungen in der gelähmten, dem Willen vollkommen entzogenen Körperhälfte. Einige den erwähnten sehr analogen Beobachtungen aus dem normalen Leben werden wir bei der Betrachtung der Hirnfunk- tionen noch vorführen. — An diese Beobachtungen schliessen sich dann noch mehrere (weniger zuverlässige?) Ergebnisse der Versuche beim Säugethier an; in diesen werden, nachdem die Durchschneidung einer seitl. Rückenmarkshälfte in ihren obern an das verlängerte Mark grenzenden Theilen eine Lähmung der entsprechenden Körperhälfte her- beigeführt hatte, die Glieder der gelähmten Seite bei energischen Bewe- gungen der entsprechenden Abtheilungen der anderen nicht gelähmten Hälfte mitbewegt. Diese letzteren Thatsachen würden unzweifelhaft das Gesetz der Mitbewegung im oben ausgesprochenen Sinne beweisen, wenn unsere Vorstellungen vom Gang der durch die Willenseinflüsse her- beigeführten Erregungen zweifellos festständen, und wenn wir den nur einseitigen Verlauf der Bewegungsfasern durch das Rückenmark des Säugethiers mit derselben Bestimmtheit behaupten könnten wie wir ihn beim Frosch zu verneinen vermögen. Wer gibt uns die Gewissheit, dass der Willen ohne alle Zwischenorgane die Enden der motorischen Primi- tivröhren anregt? und wenn in der That solche Zwischenorgane vor- handen, wie ändern sie sich bei sog. einseitigen Lähmungen? Man würde aber diese scheinbar zur Seite liegenden Fragen nicht aufwer- fen, wenn nicht 4. durch eine überwiegende Zahl von Beobachtungen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/160
Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 146. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/160>, abgerufen am 25.04.2024.