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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Mengenverhältniss der hinteren und vorderen Wurzelröhren.
Magendie, der Longet's Beobachtungen wiederaufnahm, erklärte darauf, dass
diese Empfindlichkeit den vordern Wurzeln mitgetheilt werde durch Röhren, welche
mit den hintern Wurzeln aus dem Rückenmark treten, sich dann an der Verbindungs-
stelle beider Nervenwurzeln umbiegen; denn es wurde nach Magendie die Empfin-
lichkeit der vordern Wurzeln vernichtet, wenn die entsprechenden hintern durch-
schnitten waren.

Die einfache Auslegung, welche die Thatsachen erfahren, wenn man aus ihnen
erschliesst, dass die vordern Wurzeln mit den zugehörigen Nerven zu den Verbin-
dungsgliedern zwischen Seele (oder Willensorgan) und den Muskeln, und dass die
hintern Wurzeln zu den Bindegliedern bestimmter empfindlicher Körperregionen und
der Seele (oder dem Empfindungsorgan) gehören, ist nicht allseitig anerkannt. Man
schliesst (oder schloss) gewöhnlicher, dass durch diese Versuche eine spezifische
Natur der Nerven erwiesen werde, vermöge deren jede Art der Nerven entweder
überhaupt nur zu einer ganz spezifischen Art der Reaktion befähigt wäre, d. h ent-
weder nur einen Bewegungs- oder einen Empfindungsakt einleiten könne, oder ver-
möge deren ein für beide Fälle gleichartiger innerer Zustand in den motorischen
Wurzeln nur nach der Peripherie (centrifugal, rechtläufig), in den sensiblen dagegen
nur nach dem Rückenmark und Hirn (centripetal, rückläufig) geleitet werden könne.
An einer andern Stelle kann erst die Seite 95 begonnene Widerlegung der ersten
dieser beiden Vorstellungen vollendet werden, während die der letzteren schon S. 113
gegeben ist.

Eine Vergleichung des Umfangs sämmtlicher hinteren und vor-
deren Wurzeln überzeugt uns, dass die hintern Wurzeln überwiegend
mehr Fasern enthalten, als die vordern. Diese Behauptung würde
schon richtig sein, wenn beide Wurzelmassen Nervenröhren von
gleichem Durchmesser enthielten; denn es verhält sich der Querschnitt
der vordern Wurzeln zu dem der hintern nach Blandin und Kölliker:
Am Halsmark = 1 : 2 oder = 1 : 2,9 mit Ausnahme des ersten Hals-
nerven.
" Dorsalmark = 1 : 1 oder = 1 : 2,0
" Lenden- und
Sacralmark = 2 : 3 oder = 1 : 2,2 bis zum dritten Sacralnerven incl.

Dieses Verhältniss der Zahl von distinkt aus dem Rückenmark
austretenden Fasern steigert sich dagegen noch sehr zu Gunsten der
hintern Wurzeln, wenn man bedenkt, dass der mittlere Durchmes-
ser der einzelnen Röhren in den vordern Wurzeln 0,0060''' p. in der
hintern dagegen nur 0,004''' p. beträgt. Ob dagegen die Summe der
wirksamen Partikeln des Nervenmarks in den vordern Röhren auf
einen entsprechenden Querschnitt beider Wurzeln geringer sei als
in den hintern bleibt wegen der vermehrten Primitivscheiden un-
gewiss.

Obgleich allseitig die physiologische Bedeutung der überwiegen-
den Zahl sensibler Röhren nicht ermittelt ist, so dürfte mindestens
durch dieselben das Ziel erreicht sein, dass vermittelst der hintern
Wurzeln ein grössere Zahl distinkter Puncte unserer Organe auf isolirte
Weise und mit dem Rückenmarke in Beziehung gesetzt sind als durch
die vordern.

Mengenverhältniss der hinteren und vorderen Wurzelröhren.
Magendie, der Longet’s Beobachtungen wiederaufnahm, erklärte darauf, dass
diese Empfindlichkeit den vordern Wurzeln mitgetheilt werde durch Röhren, welche
mit den hintern Wurzeln aus dem Rückenmark treten, sich dann an der Verbindungs-
stelle beider Nervenwurzeln umbiegen; denn es wurde nach Magendie die Empfin-
lichkeit der vordern Wurzeln vernichtet, wenn die entsprechenden hintern durch-
schnitten waren.

Die einfache Auslegung, welche die Thatsachen erfahren, wenn man aus ihnen
erschliesst, dass die vordern Wurzeln mit den zugehörigen Nerven zu den Verbin-
dungsgliedern zwischen Seele (oder Willensorgan) und den Muskeln, und dass die
hintern Wurzeln zu den Bindegliedern bestimmter empfindlicher Körperregionen und
der Seele (oder dem Empfindungsorgan) gehören, ist nicht allseitig anerkannt. Man
schliesst (oder schloss) gewöhnlicher, dass durch diese Versuche eine spezifische
Natur der Nerven erwiesen werde, vermöge deren jede Art der Nerven entweder
überhaupt nur zu einer ganz spezifischen Art der Reaktion befähigt wäre, d. h ent-
weder nur einen Bewegungs- oder einen Empfindungsakt einleiten könne, oder ver-
möge deren ein für beide Fälle gleichartiger innerer Zustand in den motorischen
Wurzeln nur nach der Peripherie (centrifugal, rechtläufig), in den sensiblen dagegen
nur nach dem Rückenmark und Hirn (centripetal, rückläufig) geleitet werden könne.
An einer andern Stelle kann erst die Seite 95 begonnene Widerlegung der ersten
dieser beiden Vorstellungen vollendet werden, während die der letzteren schon S. 113
gegeben ist.

Eine Vergleichung des Umfangs sämmtlicher hinteren und vor-
deren Wurzeln überzeugt uns, dass die hintern Wurzeln überwiegend
mehr Fasern enthalten, als die vordern. Diese Behauptung würde
schon richtig sein, wenn beide Wurzelmassen Nervenröhren von
gleichem Durchmesser enthielten; denn es verhält sich der Querschnitt
der vordern Wurzeln zu dem der hintern nach Blandin und Kölliker:
Am Halsmark = 1 : 2 oder = 1 : 2,9 mit Ausnahme des ersten Hals-
nerven.
„ Dorsalmark = 1 : 1 oder = 1 : 2,0
„ Lenden- und
Sacralmark = 2 : 3 oder = 1 : 2,2 bis zum dritten Sacralnerven incl.

Dieses Verhältniss der Zahl von distinkt aus dem Rückenmark
austretenden Fasern steigert sich dagegen noch sehr zu Gunsten der
hintern Wurzeln, wenn man bedenkt, dass der mittlere Durchmes-
ser der einzelnen Röhren in den vordern Wurzeln 0,0060‴ p. in der
hintern dagegen nur 0,004‴ p. beträgt. Ob dagegen die Summe der
wirksamen Partikeln des Nervenmarks in den vordern Röhren auf
einen entsprechenden Querschnitt beider Wurzeln geringer sei als
in den hintern bleibt wegen der vermehrten Primitivscheiden un-
gewiss.

Obgleich allseitig die physiologische Bedeutung der überwiegen-
den Zahl sensibler Röhren nicht ermittelt ist, so dürfte mindestens
durch dieselben das Ziel erreicht sein, dass vermittelst der hintern
Wurzeln ein grössere Zahl distinkter Puncte unserer Organe auf isolirte
Weise und mit dem Rückenmarke in Beziehung gesetzt sind als durch
die vordern.

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[133/0147] Mengenverhältniss der hinteren und vorderen Wurzelröhren. Magendie, der Longet’s Beobachtungen wiederaufnahm, erklärte darauf, dass diese Empfindlichkeit den vordern Wurzeln mitgetheilt werde durch Röhren, welche mit den hintern Wurzeln aus dem Rückenmark treten, sich dann an der Verbindungs- stelle beider Nervenwurzeln umbiegen; denn es wurde nach Magendie die Empfin- lichkeit der vordern Wurzeln vernichtet, wenn die entsprechenden hintern durch- schnitten waren. Die einfache Auslegung, welche die Thatsachen erfahren, wenn man aus ihnen erschliesst, dass die vordern Wurzeln mit den zugehörigen Nerven zu den Verbin- dungsgliedern zwischen Seele (oder Willensorgan) und den Muskeln, und dass die hintern Wurzeln zu den Bindegliedern bestimmter empfindlicher Körperregionen und der Seele (oder dem Empfindungsorgan) gehören, ist nicht allseitig anerkannt. Man schliesst (oder schloss) gewöhnlicher, dass durch diese Versuche eine spezifische Natur der Nerven erwiesen werde, vermöge deren jede Art der Nerven entweder überhaupt nur zu einer ganz spezifischen Art der Reaktion befähigt wäre, d. h ent- weder nur einen Bewegungs- oder einen Empfindungsakt einleiten könne, oder ver- möge deren ein für beide Fälle gleichartiger innerer Zustand in den motorischen Wurzeln nur nach der Peripherie (centrifugal, rechtläufig), in den sensiblen dagegen nur nach dem Rückenmark und Hirn (centripetal, rückläufig) geleitet werden könne. An einer andern Stelle kann erst die Seite 95 begonnene Widerlegung der ersten dieser beiden Vorstellungen vollendet werden, während die der letzteren schon S. 113 gegeben ist. Eine Vergleichung des Umfangs sämmtlicher hinteren und vor- deren Wurzeln überzeugt uns, dass die hintern Wurzeln überwiegend mehr Fasern enthalten, als die vordern. Diese Behauptung würde schon richtig sein, wenn beide Wurzelmassen Nervenröhren von gleichem Durchmesser enthielten; denn es verhält sich der Querschnitt der vordern Wurzeln zu dem der hintern nach Blandin und Kölliker: Am Halsmark = 1 : 2 oder = 1 : 2,9 mit Ausnahme des ersten Hals- nerven. „ Dorsalmark = 1 : 1 oder = 1 : 2,0 „ Lenden- und Sacralmark = 2 : 3 oder = 1 : 2,2 bis zum dritten Sacralnerven incl. Dieses Verhältniss der Zahl von distinkt aus dem Rückenmark austretenden Fasern steigert sich dagegen noch sehr zu Gunsten der hintern Wurzeln, wenn man bedenkt, dass der mittlere Durchmes- ser der einzelnen Röhren in den vordern Wurzeln 0,0060‴ p. in der hintern dagegen nur 0,004‴ p. beträgt. Ob dagegen die Summe der wirksamen Partikeln des Nervenmarks in den vordern Röhren auf einen entsprechenden Querschnitt beider Wurzeln geringer sei als in den hintern bleibt wegen der vermehrten Primitivscheiden un- gewiss. Obgleich allseitig die physiologische Bedeutung der überwiegen- den Zahl sensibler Röhren nicht ermittelt ist, so dürfte mindestens durch dieselben das Ziel erreicht sein, dass vermittelst der hintern Wurzeln ein grössere Zahl distinkter Puncte unserer Organe auf isolirte Weise und mit dem Rückenmarke in Beziehung gesetzt sind als durch die vordern.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/147>, abgerufen am 29.03.2024.