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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Erregungsmittel.
der erregbare Nerv in den erregten übergehe. Auf die erstere der beiden
Fragen fehlt uns durchaus noch jede Antwort, und auch die zweite ist nur
sehr unvollkommen zu befriedigen, was nun zunächst geschehen soll.

1. Erregungmittel; Reize. Die Einflüsse, welche den erreg-
baren Nerven in den erregten Zustand versetzen, sind ganz allgemein
mechanische Wirkungen, Wärme, Licht, Electricität und eine Zahl von
chemischen Atomen, welche zu der Nervensubstanz Verwandtschaft be-
sitzen. Diese Mittel erregen aber erfahrungsgemäss sämmtliche Ner-
ven des Körpers durchaus nicht auf gleiche Weise. Diese Verschie-
denheit äussert sich auf dreierlei Art: zuerst darin, dass ein und das-
selbe Mittel nicht für alle Nerven Erreger wird; dann dadurch, dass ein
Mittel, wenn es verschiedene Nerven erregen kann, in einzelnen der-
selben ganz besondere Arten der Erregung (qualitativ verschiedene
Empfindungen), und endlich darin, dass dasselbe Mittel auf verschie-
denen Orten des Verlaufes eines und desselben Nerven von einander
abweichende Erfolge erzweckt.

Zur weiteren Ausführung dieser Aussprüche fügen wir bei, dass
a) die Retina nur durch Aetherwellen, Electricität und Druck, der
nerv. acusticus nur durch Schallschwingung und Electricität; der
nerv. olfactorius nur von (aber nicht allen) flüchtigen Stoffen und
Electricität (?); die Geschmacksnerven nur durch (aber nicht alle)
lösliche Stoffe und Electricität (?); die Gefühlsnerven durch Druck,
Wärme, chemische Einwirkungen und Electricität; die Muskelnerven
durch Druck, Temperatur, Electricität und eine beschränkte Zahl che-
mischer Atome, und endlich die Drüsennerven durch chemische und
electrische Wirkungen erregt werden. -- b) Ein und dasselbe Mittel,
insofern es unter den gegebenen Bedingungen Erreger verschiedener
Nerven ist, erzeugt in einem jeden dieser verschiedenen Nerven schein-
bar oder wirklich von einander abweichende Qualitäten der Empfin-
dung, so z. B. der Druck auf einen Muskelnerven Bewegung, auf ei-
nen Hautnerven Schmerz, auf die Retina Lichtempfindung u. s. w. --
c) Endlich bringt ein und dasselbe Mittel, auf die peripherischen Ver-
zweigungen angewendet, einen andern Erfolg hervor, als wenn es
auf den Verlauf des Nerven einwirkt. Hierher gehört, dass die Erleuch-
tung der Retina Lichtempfindung hervorruft, die des Opticusstammes
dagegen nicht (Helmholtz), und dass eine Wärmeschwankung, auf
den Nerven in seiner Hautverbreitung angewendet, Temperaturempfin-
dung, während sie Schmerz erzeugt, wenn sie auf den Stamm des
Nerven geschieht. (E. H. Weber.)

2. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Nerven;
spezifische Energie. Diesen mannigfaltig abweichenden Erfolgen ge-
genüber erhebt sich die bedeutungsvolle Frage, ob wir weiterhin noch
berechtigt sind, die Nerven überall als dieselben anzusehen, oder ob
wir nicht vielmehr die Gesammtmasse der Nerven in besondere, spe-

Erregungsmittel.
der erregbare Nerv in den erregten übergehe. Auf die erstere der beiden
Fragen fehlt uns durchaus noch jede Antwort, und auch die zweite ist nur
sehr unvollkommen zu befriedigen, was nun zunächst geschehen soll.

1. Erregungmittel; Reize. Die Einflüsse, welche den erreg-
baren Nerven in den erregten Zustand versetzen, sind ganz allgemein
mechanische Wirkungen, Wärme, Licht, Electricität und eine Zahl von
chemischen Atomen, welche zu der Nervensubstanz Verwandtschaft be-
sitzen. Diese Mittel erregen aber erfahrungsgemäss sämmtliche Ner-
ven des Körpers durchaus nicht auf gleiche Weise. Diese Verschie-
denheit äussert sich auf dreierlei Art: zuerst darin, dass ein und das-
selbe Mittel nicht für alle Nerven Erreger wird; dann dadurch, dass ein
Mittel, wenn es verschiedene Nerven erregen kann, in einzelnen der-
selben ganz besondere Arten der Erregung (qualitativ verschiedene
Empfindungen), und endlich darin, dass dasselbe Mittel auf verschie-
denen Orten des Verlaufes eines und desselben Nerven von einander
abweichende Erfolge erzweckt.

Zur weiteren Ausführung dieser Aussprüche fügen wir bei, dass
a) die Retina nur durch Aetherwellen, Electricität und Druck, der
nerv. acusticus nur durch Schallschwingung und Electricität; der
nerv. olfactorius nur von (aber nicht allen) flüchtigen Stoffen und
Electricität (?); die Geschmacksnerven nur durch (aber nicht alle)
lösliche Stoffe und Electricität (?); die Gefühlsnerven durch Druck,
Wärme, chemische Einwirkungen und Electricität; die Muskelnerven
durch Druck, Temperatur, Electricität und eine beschränkte Zahl che-
mischer Atome, und endlich die Drüsennerven durch chemische und
electrische Wirkungen erregt werden. — b) Ein und dasselbe Mittel,
insofern es unter den gegebenen Bedingungen Erreger verschiedener
Nerven ist, erzeugt in einem jeden dieser verschiedenen Nerven schein-
bar oder wirklich von einander abweichende Qualitäten der Empfin-
dung, so z. B. der Druck auf einen Muskelnerven Bewegung, auf ei-
nen Hautnerven Schmerz, auf die Retina Lichtempfindung u. s. w. —
c) Endlich bringt ein und dasselbe Mittel, auf die peripherischen Ver-
zweigungen angewendet, einen andern Erfolg hervor, als wenn es
auf den Verlauf des Nerven einwirkt. Hierher gehört, dass die Erleuch-
tung der Retina Lichtempfindung hervorruft, die des Opticusstammes
dagegen nicht (Helmholtz), und dass eine Wärmeschwankung, auf
den Nerven in seiner Hautverbreitung angewendet, Temperaturempfin-
dung, während sie Schmerz erzeugt, wenn sie auf den Stamm des
Nerven geschieht. (E. H. Weber.)

2. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Nerven;
spezifische Energie. Diesen mannigfaltig abweichenden Erfolgen ge-
genüber erhebt sich die bedeutungsvolle Frage, ob wir weiterhin noch
berechtigt sind, die Nerven überall als dieselben anzusehen, oder ob
wir nicht vielmehr die Gesammtmasse der Nerven in besondere, spe-

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[95/0109] Erregungsmittel. der erregbare Nerv in den erregten übergehe. Auf die erstere der beiden Fragen fehlt uns durchaus noch jede Antwort, und auch die zweite ist nur sehr unvollkommen zu befriedigen, was nun zunächst geschehen soll. 1. Erregungmittel; Reize. Die Einflüsse, welche den erreg- baren Nerven in den erregten Zustand versetzen, sind ganz allgemein mechanische Wirkungen, Wärme, Licht, Electricität und eine Zahl von chemischen Atomen, welche zu der Nervensubstanz Verwandtschaft be- sitzen. Diese Mittel erregen aber erfahrungsgemäss sämmtliche Ner- ven des Körpers durchaus nicht auf gleiche Weise. Diese Verschie- denheit äussert sich auf dreierlei Art: zuerst darin, dass ein und das- selbe Mittel nicht für alle Nerven Erreger wird; dann dadurch, dass ein Mittel, wenn es verschiedene Nerven erregen kann, in einzelnen der- selben ganz besondere Arten der Erregung (qualitativ verschiedene Empfindungen), und endlich darin, dass dasselbe Mittel auf verschie- denen Orten des Verlaufes eines und desselben Nerven von einander abweichende Erfolge erzweckt. Zur weiteren Ausführung dieser Aussprüche fügen wir bei, dass a) die Retina nur durch Aetherwellen, Electricität und Druck, der nerv. acusticus nur durch Schallschwingung und Electricität; der nerv. olfactorius nur von (aber nicht allen) flüchtigen Stoffen und Electricität (?); die Geschmacksnerven nur durch (aber nicht alle) lösliche Stoffe und Electricität (?); die Gefühlsnerven durch Druck, Wärme, chemische Einwirkungen und Electricität; die Muskelnerven durch Druck, Temperatur, Electricität und eine beschränkte Zahl che- mischer Atome, und endlich die Drüsennerven durch chemische und electrische Wirkungen erregt werden. — b) Ein und dasselbe Mittel, insofern es unter den gegebenen Bedingungen Erreger verschiedener Nerven ist, erzeugt in einem jeden dieser verschiedenen Nerven schein- bar oder wirklich von einander abweichende Qualitäten der Empfin- dung, so z. B. der Druck auf einen Muskelnerven Bewegung, auf ei- nen Hautnerven Schmerz, auf die Retina Lichtempfindung u. s. w. — c) Endlich bringt ein und dasselbe Mittel, auf die peripherischen Ver- zweigungen angewendet, einen andern Erfolg hervor, als wenn es auf den Verlauf des Nerven einwirkt. Hierher gehört, dass die Erleuch- tung der Retina Lichtempfindung hervorruft, die des Opticusstammes dagegen nicht (Helmholtz), und dass eine Wärmeschwankung, auf den Nerven in seiner Hautverbreitung angewendet, Temperaturempfin- dung, während sie Schmerz erzeugt, wenn sie auf den Stamm des Nerven geschieht. (E. H. Weber.) 2. Gleichartigkeit und Ungleichartigkeit der Nerven; spezifische Energie. Diesen mannigfaltig abweichenden Erfolgen ge- genüber erhebt sich die bedeutungsvolle Frage, ob wir weiterhin noch berechtigt sind, die Nerven überall als dieselben anzusehen, oder ob wir nicht vielmehr die Gesammtmasse der Nerven in besondere, spe-

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 95. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/109>, abgerufen am 29.03.2024.