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Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852.

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Physiologisches Verhalten.
letztere Meinung ist wie bei dem electrischen Verhalten der Muskeln
dargethan wird, wahrscheinlich die richtige.

Physiologisches Verhalten *). Die Anregung, welche die
Nerven der Seele, den Muskeln und Drüsen zur Erzeugung der Empfin-
dung, Bewegung und Absonderung zu ertheilen vermag, belegte man,
weil man früher nur diese Aeusserungen des lebenden Nerven kannte,
mit dem Namen der physiologischen Nerventhätigkeit oder Nerven-
kraft. Innerhalb des lebenden Organismus erwecken aber, wie bekannt,
die Nerven nicht zu jederzeit die genannten Veränderungen der Organe,
denen sie zugeordnet sind, eine Thatsache, die zu der Ableitung führte,
dass die Nerven sich zeitweise im Zustande der Thätigkeit oder Kraft-
entwicklung, zeitweise in dem der Ruhe befänden. Eine noch weiter
gehende Erfahrung des täglichen Lebens musste aber bald die Ueber-
zeugung aufdrängen, dass diese beiden entgegengesetzten Zustände
nicht die einzigen dem Nerven zukommenden seien; denn es ergab sich
dass ein und derselbe Nerv unter ganz gleichen Umständen das eine
Mal zu Thätigkeitsäusserungen geweckt werden konnte, während dies
ein anderes Mal nicht geschah. Hieraus folgte der Schluss, dass der
ruhende Nerv mindestens zwei Erscheinungsformen besitze, von denen
diejenige, in welcher er unter gewissen Umständen zur Thätigkeit zu
bringen war, die erregbare, lebende, während die andere der erste-
ren entgegenstehende, die todte oder unerregbare genannt wurde.

Dem Vorstehenden entsprechend wird der Nerv als ein erregbarer
bezeichnet durch die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen in den
erregten Zustand übergehen zu können, und dieser letztere Zustand
selbst wurde wieder characterisirt durch die Thätigkeitsäusserungen,
welche der Nerv gerade in diesem oder jenem mit ihm in Verbindung
befindlichen Organ erwecken konnte. Diese Characterisirung ist nur eine
höchst unvollkommene, und zwar darum weil sie nicht aus innern Ver-
hältnissen der den Nerven constituirenden elementaren Bedingungen ge-
nommen ist. Du Bois ist es gelungen, den ersten und zwar einen sehr be-
deutenden Schritt zur schärfern Bestimmung der molekülären Verände-
rung zu thun, welche mit jenen physiologischen Hand in Hand gehen; er
machte die wichtige Entdeckung, dass der ruhende erregbare Nerv dieje-
nige Anordnung elektrischer Molekeln darbiete, in welcher sie den ruhen-
den Nervenstrom erzeugen, während der Nerv in der Erregung in die ne-
gative Stromesschwankung verfällt. Diese Erfahrung regt nun sogleich
die Frage an, welche chemische und physikalische Umstände im Ner-
ven die eine oder andere Anordnung der elektrischen Molekeln bedin-
gen, und die weitere, unter welchen besondern Veranlassungen der
ruhende Strom in die negative Schwankung, oder anders ausgedrückt,

*) J. Müller Handbuch der Physiologie 4. Aufl. -- Volkmann Nervenphysiologie in R. Wag-
ners
Handwörterbuch. 2. Bd. -- Spiess Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844.
E. H. Weber Tastsinn, Wagners Handwörterb. 3. Bd.

Physiologisches Verhalten.
letztere Meinung ist wie bei dem electrischen Verhalten der Muskeln
dargethan wird, wahrscheinlich die richtige.

Physiologisches Verhalten *). Die Anregung, welche die
Nerven der Seele, den Muskeln und Drüsen zur Erzeugung der Empfin-
dung, Bewegung und Absonderung zu ertheilen vermag, belegte man,
weil man früher nur diese Aeusserungen des lebenden Nerven kannte,
mit dem Namen der physiologischen Nerventhätigkeit oder Nerven-
kraft. Innerhalb des lebenden Organismus erwecken aber, wie bekannt,
die Nerven nicht zu jederzeit die genannten Veränderungen der Organe,
denen sie zugeordnet sind, eine Thatsache, die zu der Ableitung führte,
dass die Nerven sich zeitweise im Zustande der Thätigkeit oder Kraft-
entwicklung, zeitweise in dem der Ruhe befänden. Eine noch weiter
gehende Erfahrung des täglichen Lebens musste aber bald die Ueber-
zeugung aufdrängen, dass diese beiden entgegengesetzten Zustände
nicht die einzigen dem Nerven zukommenden seien; denn es ergab sich
dass ein und derselbe Nerv unter ganz gleichen Umständen das eine
Mal zu Thätigkeitsäusserungen geweckt werden konnte, während dies
ein anderes Mal nicht geschah. Hieraus folgte der Schluss, dass der
ruhende Nerv mindestens zwei Erscheinungsformen besitze, von denen
diejenige, in welcher er unter gewissen Umständen zur Thätigkeit zu
bringen war, die erregbare, lebende, während die andere der erste-
ren entgegenstehende, die todte oder unerregbare genannt wurde.

Dem Vorstehenden entsprechend wird der Nerv als ein erregbarer
bezeichnet durch die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen in den
erregten Zustand übergehen zu können, und dieser letztere Zustand
selbst wurde wieder characterisirt durch die Thätigkeitsäusserungen,
welche der Nerv gerade in diesem oder jenem mit ihm in Verbindung
befindlichen Organ erwecken konnte. Diese Characterisirung ist nur eine
höchst unvollkommene, und zwar darum weil sie nicht aus innern Ver-
hältnissen der den Nerven constituirenden elementaren Bedingungen ge-
nommen ist. Du Bois ist es gelungen, den ersten und zwar einen sehr be-
deutenden Schritt zur schärfern Bestimmung der molekülären Verände-
rung zu thun, welche mit jenen physiologischen Hand in Hand gehen; er
machte die wichtige Entdeckung, dass der ruhende erregbare Nerv dieje-
nige Anordnung elektrischer Molekeln darbiete, in welcher sie den ruhen-
den Nervenstrom erzeugen, während der Nerv in der Erregung in die ne-
gative Stromesschwankung verfällt. Diese Erfahrung regt nun sogleich
die Frage an, welche chemische und physikalische Umstände im Ner-
ven die eine oder andere Anordnung der elektrischen Molekeln bedin-
gen, und die weitere, unter welchen besondern Veranlassungen der
ruhende Strom in die negative Schwankung, oder anders ausgedrückt,

*) J. Müller Handbuch der Physiologie 4. Aufl. — Volkmann Nervenphysiologie in R. Wag-
ners
Handwörterbuch. 2. Bd. — Spiess Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844.
E. H. Weber Tastsinn, Wagners Handwörterb. 3. Bd.
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[94/0108] Physiologisches Verhalten. letztere Meinung ist wie bei dem electrischen Verhalten der Muskeln dargethan wird, wahrscheinlich die richtige. Physiologisches Verhalten *). Die Anregung, welche die Nerven der Seele, den Muskeln und Drüsen zur Erzeugung der Empfin- dung, Bewegung und Absonderung zu ertheilen vermag, belegte man, weil man früher nur diese Aeusserungen des lebenden Nerven kannte, mit dem Namen der physiologischen Nerventhätigkeit oder Nerven- kraft. Innerhalb des lebenden Organismus erwecken aber, wie bekannt, die Nerven nicht zu jederzeit die genannten Veränderungen der Organe, denen sie zugeordnet sind, eine Thatsache, die zu der Ableitung führte, dass die Nerven sich zeitweise im Zustande der Thätigkeit oder Kraft- entwicklung, zeitweise in dem der Ruhe befänden. Eine noch weiter gehende Erfahrung des täglichen Lebens musste aber bald die Ueber- zeugung aufdrängen, dass diese beiden entgegengesetzten Zustände nicht die einzigen dem Nerven zukommenden seien; denn es ergab sich dass ein und derselbe Nerv unter ganz gleichen Umständen das eine Mal zu Thätigkeitsäusserungen geweckt werden konnte, während dies ein anderes Mal nicht geschah. Hieraus folgte der Schluss, dass der ruhende Nerv mindestens zwei Erscheinungsformen besitze, von denen diejenige, in welcher er unter gewissen Umständen zur Thätigkeit zu bringen war, die erregbare, lebende, während die andere der erste- ren entgegenstehende, die todte oder unerregbare genannt wurde. Dem Vorstehenden entsprechend wird der Nerv als ein erregbarer bezeichnet durch die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen in den erregten Zustand übergehen zu können, und dieser letztere Zustand selbst wurde wieder characterisirt durch die Thätigkeitsäusserungen, welche der Nerv gerade in diesem oder jenem mit ihm in Verbindung befindlichen Organ erwecken konnte. Diese Characterisirung ist nur eine höchst unvollkommene, und zwar darum weil sie nicht aus innern Ver- hältnissen der den Nerven constituirenden elementaren Bedingungen ge- nommen ist. Du Bois ist es gelungen, den ersten und zwar einen sehr be- deutenden Schritt zur schärfern Bestimmung der molekülären Verände- rung zu thun, welche mit jenen physiologischen Hand in Hand gehen; er machte die wichtige Entdeckung, dass der ruhende erregbare Nerv dieje- nige Anordnung elektrischer Molekeln darbiete, in welcher sie den ruhen- den Nervenstrom erzeugen, während der Nerv in der Erregung in die ne- gative Stromesschwankung verfällt. Diese Erfahrung regt nun sogleich die Frage an, welche chemische und physikalische Umstände im Ner- ven die eine oder andere Anordnung der elektrischen Molekeln bedin- gen, und die weitere, unter welchen besondern Veranlassungen der ruhende Strom in die negative Schwankung, oder anders ausgedrückt, *) J. Müller Handbuch der Physiologie 4. Aufl. — Volkmann Nervenphysiologie in R. Wag- ners Handwörterbuch. 2. Bd. — Spiess Physiologie des Nervensystems. Braunschweig 1844. E. H. Weber Tastsinn, Wagners Handwörterb. 3. Bd.

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Zitationshilfe: Ludwig, Carl: Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Bd. 1. Heidelberg, 1852, S. 94. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_physiologie01_1852/108>, abgerufen am 29.03.2024.