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Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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so daß sie sich mit zugedrückten Augen hätte einbilden können, sie treibe in der Arche Noah hoch auf den Wogen der Sindflut. Und wahrlich! es schien auch nichts Geringeres, als eine zweite Sindflut im Anzuge zu sein. Der Regen brach mit immer heftigerer Gewalt herab; die halb abgerissenen Fensterläden stöhnten unter seiner Wucht -- Fluten auf Fluten schütteten herunter -- schon hörte sie das ferne Brausen der von den Bergen stürzenden Wasser, und da sie wußte, wie furchtbar rasch schon bei gewöhnlichen Gewittern der kleine Strom anschwoll, über den der Weg zur Stadt ging, so sah sie im Geiste bereits die Brücke abgebrochen und sich damit die Möglichkeit genommen, heute noch in die Gerichte zu gelangen. --

Doch das war es nicht, was sie erschreckte. Ihre Erklärung lag schon bei den Acten, und ihr Advocat hatte Vollmacht, für sie einzutreten. Die Sache konnte ihren Gang gehen ohne sie, wenn nur Johannes keinen Einspruch that. Und daß er das nach Allem, was vorausgegangen und heute noch dazu gekommen war, nicht thun würde, das wußte sie so gewiß, als daß das die Bänder ihrer Schürze waren, an denen ihre heißen Finger immer eifriger herunterzupften, je mehr sich ihr Geist in fieberhafter Erregung abarbeitete. Wenn es ihm "pressirte", und gewiß, es mußte ihm pressiren, so bald als möglich von ihr loszukommen, so hielt ihn selbst die abgebrochene Brücke nicht zurück -- er war ein guter Schwimmer,

so daß sie sich mit zugedrückten Augen hätte einbilden können, sie treibe in der Arche Noah hoch auf den Wogen der Sindflut. Und wahrlich! es schien auch nichts Geringeres, als eine zweite Sindflut im Anzuge zu sein. Der Regen brach mit immer heftigerer Gewalt herab; die halb abgerissenen Fensterläden stöhnten unter seiner Wucht — Fluten auf Fluten schütteten herunter — schon hörte sie das ferne Brausen der von den Bergen stürzenden Wasser, und da sie wußte, wie furchtbar rasch schon bei gewöhnlichen Gewittern der kleine Strom anschwoll, über den der Weg zur Stadt ging, so sah sie im Geiste bereits die Brücke abgebrochen und sich damit die Möglichkeit genommen, heute noch in die Gerichte zu gelangen. —

Doch das war es nicht, was sie erschreckte. Ihre Erklärung lag schon bei den Acten, und ihr Advocat hatte Vollmacht, für sie einzutreten. Die Sache konnte ihren Gang gehen ohne sie, wenn nur Johannes keinen Einspruch that. Und daß er das nach Allem, was vorausgegangen und heute noch dazu gekommen war, nicht thun würde, das wußte sie so gewiß, als daß das die Bänder ihrer Schürze waren, an denen ihre heißen Finger immer eifriger herunterzupften, je mehr sich ihr Geist in fieberhafter Erregung abarbeitete. Wenn es ihm „pressirte“, und gewiß, es mußte ihm pressiren, so bald als möglich von ihr loszukommen, so hielt ihn selbst die abgebrochene Brücke nicht zurück — er war ein guter Schwimmer,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:36:23Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:36:23Z)

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Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/40>, abgerufen am 28.03.2024.