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Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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oft sie auch den Blick mit dem muthigen Entschlusse erhob, ihre Umgebung kennen zu lernen, so oft kehrte er auf dem halben Wege scheu zurück. So viel jedoch erkannte sie beim flüchtigen Scheine der Blitze, daß die Hütte zwei Abtheilungen umfaßte, deren zweite sich vermuthlich als natürliche Höhle in den Felsen hinein erstreckte. Die Verbindungsthüre zwischen den beiden Räumen war faulend aus den rostigen Angeln gefallen; sie lag quer über den Eingang hin am Boden, und darüber gähnte die schwarze Oeffnung dem armen Weibe drohend entgegen. Was sich sonst noch in der Stube befand an altem Lattenwerke, Reisigresten und Scherbenhaufen, Alles von dem Flockenwulste vieljährigen Staubes überdeckt, ließ sich in seiner Formlosigkeit und bei der Dunkelheit, die ringsum herrschte, kaum erkennen.

Der unheimliche Ort war wohl dazu angethan, eine abergläubische Phantasie in Thätigkeit zu versetzen; wohl kannte sie auch Geschichten, die Rose-Marie, eine schauerlicher als die andere, und in jeder anderen Gemüthsverfassung würden sie ihr gerade jetzt zu ihrer Verzweiflung eingefallen sein; heute aber hatte die Wirklichkeit noch ganz andere Schrecken, als die Märchen ihrer heimatlichen Spinnstuben. Noch niemals hatte sie einen so unerschöpflichen Feuerherd sich jagender Blitze gesehen; ihr sonst so starkes Herz erbebte vor der Nähe und der Gräßlichkeit dieser Donnerschläge, die die Wände der Hütte zittern machten und die losen Dielen des Fußbodens in einer wellenförmigen Bewegung erhielten,

oft sie auch den Blick mit dem muthigen Entschlusse erhob, ihre Umgebung kennen zu lernen, so oft kehrte er auf dem halben Wege scheu zurück. So viel jedoch erkannte sie beim flüchtigen Scheine der Blitze, daß die Hütte zwei Abtheilungen umfaßte, deren zweite sich vermuthlich als natürliche Höhle in den Felsen hinein erstreckte. Die Verbindungsthüre zwischen den beiden Räumen war faulend aus den rostigen Angeln gefallen; sie lag quer über den Eingang hin am Boden, und darüber gähnte die schwarze Oeffnung dem armen Weibe drohend entgegen. Was sich sonst noch in der Stube befand an altem Lattenwerke, Reisigresten und Scherbenhaufen, Alles von dem Flockenwulste vieljährigen Staubes überdeckt, ließ sich in seiner Formlosigkeit und bei der Dunkelheit, die ringsum herrschte, kaum erkennen.

Der unheimliche Ort war wohl dazu angethan, eine abergläubische Phantasie in Thätigkeit zu versetzen; wohl kannte sie auch Geschichten, die Rose-Marie, eine schauerlicher als die andere, und in jeder anderen Gemüthsverfassung würden sie ihr gerade jetzt zu ihrer Verzweiflung eingefallen sein; heute aber hatte die Wirklichkeit noch ganz andere Schrecken, als die Märchen ihrer heimatlichen Spinnstuben. Noch niemals hatte sie einen so unerschöpflichen Feuerherd sich jagender Blitze gesehen; ihr sonst so starkes Herz erbebte vor der Nähe und der Gräßlichkeit dieser Donnerschläge, die die Wände der Hütte zittern machten und die losen Dielen des Fußbodens in einer wellenförmigen Bewegung erhielten,

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[0039] oft sie auch den Blick mit dem muthigen Entschlusse erhob, ihre Umgebung kennen zu lernen, so oft kehrte er auf dem halben Wege scheu zurück. So viel jedoch erkannte sie beim flüchtigen Scheine der Blitze, daß die Hütte zwei Abtheilungen umfaßte, deren zweite sich vermuthlich als natürliche Höhle in den Felsen hinein erstreckte. Die Verbindungsthüre zwischen den beiden Räumen war faulend aus den rostigen Angeln gefallen; sie lag quer über den Eingang hin am Boden, und darüber gähnte die schwarze Oeffnung dem armen Weibe drohend entgegen. Was sich sonst noch in der Stube befand an altem Lattenwerke, Reisigresten und Scherbenhaufen, Alles von dem Flockenwulste vieljährigen Staubes überdeckt, ließ sich in seiner Formlosigkeit und bei der Dunkelheit, die ringsum herrschte, kaum erkennen. Der unheimliche Ort war wohl dazu angethan, eine abergläubische Phantasie in Thätigkeit zu versetzen; wohl kannte sie auch Geschichten, die Rose-Marie, eine schauerlicher als die andere, und in jeder anderen Gemüthsverfassung würden sie ihr gerade jetzt zu ihrer Verzweiflung eingefallen sein; heute aber hatte die Wirklichkeit noch ganz andere Schrecken, als die Märchen ihrer heimatlichen Spinnstuben. Noch niemals hatte sie einen so unerschöpflichen Feuerherd sich jagender Blitze gesehen; ihr sonst so starkes Herz erbebte vor der Nähe und der Gräßlichkeit dieser Donnerschläge, die die Wände der Hütte zittern machten und die losen Dielen des Fußbodens in einer wellenförmigen Bewegung erhielten,

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:36:23Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:36:23Z)

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Bogensignaturen: nicht gekennzeichnet; Druckfehler: dokumentiert; fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: keine Angabe; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet; i/j in Fraktur: keine Angabe; I/J in Fraktur: Lautwert transkribiert; Kolumnentitel: nicht gekennzeichnet; Kustoden: keine Angabe; langes s (ſ): als s transkribiert; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): keine Angabe; Seitenumbrüche markiert: nein; Silbentrennung: aufgelöst; u/v bzw. U/V: keine Angabe; Vokale mit übergest. e: keine Angabe; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: nein;




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Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/39>, abgerufen am 24.04.2024.