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Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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Ihr Tuch fest an Augen, Mund und Nase pressend, segelte die Rose-Marie blindlings durch den Sturm. Sehen und Hören vergingen, und vom Gehen, was man eben Gehen heißt, war bald keine Rede mehr bei ihr. Jetzt vorwärts geblasen, wie eine Feder, jetzt in die Höhe gehoben, daß ihr der Boden unter den Füßen wich -- was half ihr alles Stemmen und Ringen, alle Kraft des Körpers und des Willens gegen eine solche Macht? Plötzlich in die Seite gefaßt und herumgedrillt, daß ihr der Athem ausging, sah sie manchen Baum von gleich festem und gesundem Kern sein Leben lassen bei dem wilden Spiele. Vor und hinter ihr fielen die Riesen des Waldes, bald in der Krone gebrochen, bald mit den Wurzeln aus der Erde gehoben, und vermehrten durch das Krachen ihrer Stämme und die dumpfen Schlage ihres wuchtigen Falles das betäubende Getöse des Sturmes.

Nicht lange, und die Rose-Marie mußte ihren Kampf aufgeben gegen diesen übermächtigen Feind; um nicht in die Lüfte fortgeführt oder von einem fallenden Baume erschlagen zu werden, warf sie sich an einer freien Stelle platt auf die Erde hin und ließ es über sich dahin ziehen, wie das wilde Heer, von dem sie wohl gehört, das aber nicht der Aberglaube ihrer Gegend und also auch nicht der ihre war. So saß ihr wohl das Grauen in allen Gliedern, aber nicht im Herzen, und sie hatte Muth genug, von Zeit zu Zeit den Kopf zu erheben, um zu sehen, ob sich der "Wütherich" noch nicht müde getobt.

Ihr Tuch fest an Augen, Mund und Nase pressend, segelte die Rose-Marie blindlings durch den Sturm. Sehen und Hören vergingen, und vom Gehen, was man eben Gehen heißt, war bald keine Rede mehr bei ihr. Jetzt vorwärts geblasen, wie eine Feder, jetzt in die Höhe gehoben, daß ihr der Boden unter den Füßen wich — was half ihr alles Stemmen und Ringen, alle Kraft des Körpers und des Willens gegen eine solche Macht? Plötzlich in die Seite gefaßt und herumgedrillt, daß ihr der Athem ausging, sah sie manchen Baum von gleich festem und gesundem Kern sein Leben lassen bei dem wilden Spiele. Vor und hinter ihr fielen die Riesen des Waldes, bald in der Krone gebrochen, bald mit den Wurzeln aus der Erde gehoben, und vermehrten durch das Krachen ihrer Stämme und die dumpfen Schlage ihres wuchtigen Falles das betäubende Getöse des Sturmes.

Nicht lange, und die Rose-Marie mußte ihren Kampf aufgeben gegen diesen übermächtigen Feind; um nicht in die Lüfte fortgeführt oder von einem fallenden Baume erschlagen zu werden, warf sie sich an einer freien Stelle platt auf die Erde hin und ließ es über sich dahin ziehen, wie das wilde Heer, von dem sie wohl gehört, das aber nicht der Aberglaube ihrer Gegend und also auch nicht der ihre war. So saß ihr wohl das Grauen in allen Gliedern, aber nicht im Herzen, und sie hatte Muth genug, von Zeit zu Zeit den Kopf zu erheben, um zu sehen, ob sich der „Wütherich“ noch nicht müde getobt.

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[0032] Ihr Tuch fest an Augen, Mund und Nase pressend, segelte die Rose-Marie blindlings durch den Sturm. Sehen und Hören vergingen, und vom Gehen, was man eben Gehen heißt, war bald keine Rede mehr bei ihr. Jetzt vorwärts geblasen, wie eine Feder, jetzt in die Höhe gehoben, daß ihr der Boden unter den Füßen wich — was half ihr alles Stemmen und Ringen, alle Kraft des Körpers und des Willens gegen eine solche Macht? Plötzlich in die Seite gefaßt und herumgedrillt, daß ihr der Athem ausging, sah sie manchen Baum von gleich festem und gesundem Kern sein Leben lassen bei dem wilden Spiele. Vor und hinter ihr fielen die Riesen des Waldes, bald in der Krone gebrochen, bald mit den Wurzeln aus der Erde gehoben, und vermehrten durch das Krachen ihrer Stämme und die dumpfen Schlage ihres wuchtigen Falles das betäubende Getöse des Sturmes. Nicht lange, und die Rose-Marie mußte ihren Kampf aufgeben gegen diesen übermächtigen Feind; um nicht in die Lüfte fortgeführt oder von einem fallenden Baume erschlagen zu werden, warf sie sich an einer freien Stelle platt auf die Erde hin und ließ es über sich dahin ziehen, wie das wilde Heer, von dem sie wohl gehört, das aber nicht der Aberglaube ihrer Gegend und also auch nicht der ihre war. So saß ihr wohl das Grauen in allen Gliedern, aber nicht im Herzen, und sie hatte Muth genug, von Zeit zu Zeit den Kopf zu erheben, um zu sehen, ob sich der „Wütherich“ noch nicht müde getobt.

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Thomas Weitin: Herausgeber
Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:36:23Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:36:23Z)

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Zitationshilfe: Ludwig, Julie: Das Gericht im Walde. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 20. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. [237]–288. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ludwig_gericht_1910/32>, abgerufen am 28.03.2024.