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Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016.

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seligem Schauen gewordenen Glaubens, die andere eine Verkörperung der schmerzlichen Sehnsucht nach dem Glück des Glaubens. Das Antlitz der Heiligen ist emporgewendet, ihr Leben scheint dem Erlöschen nahe, aber in den ganz vergeistigten Zügen spiegelt sich dennoch volles Leben, wenn auch ein anderes, höheres. Dem Sohn aber ist das Licht, in dessen Glanz sie schwelgt, nur erst ein schwacher Dämmerschein, zu unsicher, zu schwankend, um die Zweifel aufzuklären, die rastlos forschenden Gedanken in einem Brennpunkt zu vereinigen. Das sagt die schwermüthige Neigung seines Hauptes, der wie in einen Abgrund niederstarrende Blick.

Im Anblick des Bildes vergaß ich Hunger und Ermüdung, und so aufmerksam und so lange hatte ich es betrachtet, daß ich es sogar unter den endlich leise darüber fallenden Schatten der Dämmerung noch immer in seiner vollen Wirkung vor mir zu sehen glaubte.

Plötzlich klang die holde Stimme des Fräuleins von Börte hinter mir. Mir unhörbar war sie eingetreten, mußte mein Entzücken still beobachtet haben, und als ob meine Gedanken laut zu ihr gesprochen hätten und sie nun das Gespräch nur fortsetzte, sagte sie: Und glaubt man nicht noch die Spuren eines Schmerzes im Antlitz der Heiligen zu sehen, während man in ihrem Anblick doch zugleich klar und voll empfindet, daß sie alles Irdische überwunden hat? Und fühlt man nicht ebenso, daß der Trotz des Sohnes nicht andauern kann, daß ein Charakter, wie er in diesen

seligem Schauen gewordenen Glaubens, die andere eine Verkörperung der schmerzlichen Sehnsucht nach dem Glück des Glaubens. Das Antlitz der Heiligen ist emporgewendet, ihr Leben scheint dem Erlöschen nahe, aber in den ganz vergeistigten Zügen spiegelt sich dennoch volles Leben, wenn auch ein anderes, höheres. Dem Sohn aber ist das Licht, in dessen Glanz sie schwelgt, nur erst ein schwacher Dämmerschein, zu unsicher, zu schwankend, um die Zweifel aufzuklären, die rastlos forschenden Gedanken in einem Brennpunkt zu vereinigen. Das sagt die schwermüthige Neigung seines Hauptes, der wie in einen Abgrund niederstarrende Blick.

Im Anblick des Bildes vergaß ich Hunger und Ermüdung, und so aufmerksam und so lange hatte ich es betrachtet, daß ich es sogar unter den endlich leise darüber fallenden Schatten der Dämmerung noch immer in seiner vollen Wirkung vor mir zu sehen glaubte.

Plötzlich klang die holde Stimme des Fräuleins von Börte hinter mir. Mir unhörbar war sie eingetreten, mußte mein Entzücken still beobachtet haben, und als ob meine Gedanken laut zu ihr gesprochen hätten und sie nun das Gespräch nur fortsetzte, sagte sie: Und glaubt man nicht noch die Spuren eines Schmerzes im Antlitz der Heiligen zu sehen, während man in ihrem Anblick doch zugleich klar und voll empfindet, daß sie alles Irdische überwunden hat? Und fühlt man nicht ebenso, daß der Trotz des Sohnes nicht andauern kann, daß ein Charakter, wie er in diesen

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[0030] seligem Schauen gewordenen Glaubens, die andere eine Verkörperung der schmerzlichen Sehnsucht nach dem Glück des Glaubens. Das Antlitz der Heiligen ist emporgewendet, ihr Leben scheint dem Erlöschen nahe, aber in den ganz vergeistigten Zügen spiegelt sich dennoch volles Leben, wenn auch ein anderes, höheres. Dem Sohn aber ist das Licht, in dessen Glanz sie schwelgt, nur erst ein schwacher Dämmerschein, zu unsicher, zu schwankend, um die Zweifel aufzuklären, die rastlos forschenden Gedanken in einem Brennpunkt zu vereinigen. Das sagt die schwermüthige Neigung seines Hauptes, der wie in einen Abgrund niederstarrende Blick. Im Anblick des Bildes vergaß ich Hunger und Ermüdung, und so aufmerksam und so lange hatte ich es betrachtet, daß ich es sogar unter den endlich leise darüber fallenden Schatten der Dämmerung noch immer in seiner vollen Wirkung vor mir zu sehen glaubte. Plötzlich klang die holde Stimme des Fräuleins von Börte hinter mir. Mir unhörbar war sie eingetreten, mußte mein Entzücken still beobachtet haben, und als ob meine Gedanken laut zu ihr gesprochen hätten und sie nun das Gespräch nur fortsetzte, sagte sie: Und glaubt man nicht noch die Spuren eines Schmerzes im Antlitz der Heiligen zu sehen, während man in ihrem Anblick doch zugleich klar und voll empfindet, daß sie alles Irdische überwunden hat? Und fühlt man nicht ebenso, daß der Trotz des Sohnes nicht andauern kann, daß ein Charakter, wie er in diesen

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Digital Humanities Cooperation Konstanz/Darmstadt: Bereitstellung der Texttranskription. (2017-03-15T14:30:32Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
Jan Merkt, Thomas Gilli, Jasmin Bieber, Katharina Herget, Anni Peter, Christian Thomas, Benjamin Fiechter: Bearbeitung der digitalen Edition. (2017-03-15T14:30:32Z)

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Zitationshilfe: Lorm, Hieronymus [d. i. Heinrich Landesmann]: Ein adeliges Fräulein. In: Deutscher Novellenschatz. Hrsg. von Paul Heyse und Hermann Kurz. Bd. 24. 2. Aufl. Berlin, [1910], S. 1–49. In: Weitin, Thomas (Hrsg.): Volldigitalisiertes Korpus. Der Deutsche Novellenschatz. Darmstadt/Konstanz, 2016, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/lorm_fraeulein_1910/30>, abgerufen am 29.03.2024.