Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite
nächste Seite >>

Tägliche Bewegung der Erde.
um den festen Himmel, und so wie dort die sichtbaren Sterne von
dem festen östlichen Horizonte sich entfernen oder höher steigen und
dem westlichen sich nähern, so entfernt sich hier der bewegliche öst-
liche Horizont von seinen Sternen, die daher auch zu steigen schei-
nen werden, während sich der westliche Horizont den auf der
Westseite liegenden Sternen nähert, und sie dadurch ihrem Unter-
gange immer näher bringt.

Beide Hypothesen stellen also die Erscheinung, die dadurch
erklärt werden soll, gleich gut und vollständig dar, und so lange
es bloß um diese Darstellung der äußeren Erscheinung zu thun
ist, so hängt auch die Wahl zwischen beiden bloß von unserer
Willkür ab, da keine derselben einen Vorzug vor der andern hat,
und nichts in ihnen selbst liegt, was uns zu der Annahme der
einen oder der andern vorzugsweise bestimmen könnte.

§. 16. (Innere Wahrscheinlichkeit der Rotation der Erde.
I. Aus der Geschwindigkeit.) Allein verhält es sich ebenso mit den
inneren Wahrscheinlichkeiten dieser beiden Voraussetzungen? --
Dort bewegt sich der Himmel, während wir in gemächlicher Ruhe
stille sitzend zusehen: hier aber lassen wir den Himmel ruhen,
während wir mit unserer Kugel uns um uns selbst drehen, und
zwar mit einer in der That sehr großen Geschwindigkeit, die unter
dem Aequator volle 225 Meilen in einer Stunde beträgt. Wer
von uns hat aber von dieser Geschwindigkeit, mit welcher wir alle
täglich um den Mittelpunkt der Erde fahren sollen, auch nur das
Geringste bemerkt? Wer wird also auch für diese zweite Hypothese
stimmen und dafür nicht gleich auf den ersten Blick die andere
für die unendlich wahrscheinlichere, für die allein wahre erklären.

Auf den ersten Blick allerdings. -- Allein die Sache ist doch
wohl auch eines zweiten Blickes und überhaupt einer näheren Be-
trachtung werth.

Was zuerst diese Geschwindigkeit der Erde betrifft, so werden
wir bald mit noch viel größeren Geschwindigkeiten in der Natur
bekannt werden, gegen welche diese, so groß sie auch Manchem er-
scheinen mag, beinahe gänzlich verschwindet. Diese Geschwindig-
keit der Erde ist eben nicht viel größer, als die des Schalles, der
nach den neuesten Versuchen in einer Minute 2,724 Meilen zu-
rücklegt, während ein Punkt des Aequators der Erde in dieser

Tägliche Bewegung der Erde.
um den feſten Himmel, und ſo wie dort die ſichtbaren Sterne von
dem feſten öſtlichen Horizonte ſich entfernen oder höher ſteigen und
dem weſtlichen ſich nähern, ſo entfernt ſich hier der bewegliche öſt-
liche Horizont von ſeinen Sternen, die daher auch zu ſteigen ſchei-
nen werden, während ſich der weſtliche Horizont den auf der
Weſtſeite liegenden Sternen nähert, und ſie dadurch ihrem Unter-
gange immer näher bringt.

Beide Hypotheſen ſtellen alſo die Erſcheinung, die dadurch
erklärt werden ſoll, gleich gut und vollſtändig dar, und ſo lange
es bloß um dieſe Darſtellung der äußeren Erſcheinung zu thun
iſt, ſo hängt auch die Wahl zwiſchen beiden bloß von unſerer
Willkür ab, da keine derſelben einen Vorzug vor der andern hat,
und nichts in ihnen ſelbſt liegt, was uns zu der Annahme der
einen oder der andern vorzugsweiſe beſtimmen könnte.

§. 16. (Innere Wahrſcheinlichkeit der Rotation der Erde.
I. Aus der Geſchwindigkeit.) Allein verhält es ſich ebenſo mit den
inneren Wahrſcheinlichkeiten dieſer beiden Vorausſetzungen? —
Dort bewegt ſich der Himmel, während wir in gemächlicher Ruhe
ſtille ſitzend zuſehen: hier aber laſſen wir den Himmel ruhen,
während wir mit unſerer Kugel uns um uns ſelbſt drehen, und
zwar mit einer in der That ſehr großen Geſchwindigkeit, die unter
dem Aequator volle 225 Meilen in einer Stunde beträgt. Wer
von uns hat aber von dieſer Geſchwindigkeit, mit welcher wir alle
täglich um den Mittelpunkt der Erde fahren ſollen, auch nur das
Geringſte bemerkt? Wer wird alſo auch für dieſe zweite Hypotheſe
ſtimmen und dafür nicht gleich auf den erſten Blick die andere
für die unendlich wahrſcheinlichere, für die allein wahre erklären.

Auf den erſten Blick allerdings. — Allein die Sache iſt doch
wohl auch eines zweiten Blickes und überhaupt einer näheren Be-
trachtung werth.

Was zuerſt dieſe Geſchwindigkeit der Erde betrifft, ſo werden
wir bald mit noch viel größeren Geſchwindigkeiten in der Natur
bekannt werden, gegen welche dieſe, ſo groß ſie auch Manchem er-
ſcheinen mag, beinahe gänzlich verſchwindet. Dieſe Geſchwindig-
keit der Erde iſt eben nicht viel größer, als die des Schalles, der
nach den neueſten Verſuchen in einer Minute 2,724 Meilen zu-
rücklegt, während ein Punkt des Aequators der Erde in dieſer

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <div n="3">
          <p><pb facs="#f0074" n="62"/><fw place="top" type="header">Tägliche Bewegung der Erde.</fw><lb/>
um den fe&#x017F;ten Himmel, und &#x017F;o wie dort die &#x017F;ichtbaren Sterne von<lb/>
dem fe&#x017F;ten ö&#x017F;tlichen Horizonte &#x017F;ich entfernen oder höher &#x017F;teigen und<lb/>
dem we&#x017F;tlichen &#x017F;ich nähern, &#x017F;o entfernt &#x017F;ich hier der bewegliche ö&#x017F;t-<lb/>
liche Horizont von &#x017F;einen Sternen, die daher auch zu &#x017F;teigen &#x017F;chei-<lb/>
nen werden, während &#x017F;ich der we&#x017F;tliche Horizont den auf der<lb/>
We&#x017F;t&#x017F;eite liegenden Sternen nähert, und &#x017F;ie dadurch ihrem Unter-<lb/>
gange immer näher bringt.</p><lb/>
          <p>Beide Hypothe&#x017F;en &#x017F;tellen al&#x017F;o die Er&#x017F;cheinung, die dadurch<lb/>
erklärt werden &#x017F;oll, gleich gut und voll&#x017F;tändig dar, und &#x017F;o lange<lb/>
es bloß um die&#x017F;e Dar&#x017F;tellung der <hi rendition="#g">äußeren</hi> Er&#x017F;cheinung zu thun<lb/>
i&#x017F;t, &#x017F;o hängt auch die Wahl zwi&#x017F;chen beiden bloß von un&#x017F;erer<lb/>
Willkür ab, da keine der&#x017F;elben einen Vorzug vor der andern hat,<lb/>
und nichts in ihnen &#x017F;elb&#x017F;t liegt, was uns zu der Annahme der<lb/>
einen oder der andern vorzugswei&#x017F;e be&#x017F;timmen könnte.</p><lb/>
          <p>§. 16. (Innere Wahr&#x017F;cheinlichkeit der Rotation der Erde.<lb/><hi rendition="#aq">I.</hi> Aus der Ge&#x017F;chwindigkeit.) Allein verhält es &#x017F;ich eben&#x017F;o mit den<lb/><hi rendition="#g">inneren</hi> Wahr&#x017F;cheinlichkeiten die&#x017F;er beiden Voraus&#x017F;etzungen? &#x2014;<lb/><hi rendition="#g">Dort</hi> bewegt &#x017F;ich der Himmel, während wir in gemächlicher Ruhe<lb/>
&#x017F;tille &#x017F;itzend zu&#x017F;ehen: <hi rendition="#g">hier</hi> aber la&#x017F;&#x017F;en wir den Himmel ruhen,<lb/>
während wir mit un&#x017F;erer Kugel uns um uns &#x017F;elb&#x017F;t drehen, und<lb/>
zwar mit einer in der That &#x017F;ehr großen Ge&#x017F;chwindigkeit, die unter<lb/>
dem Aequator volle 225 Meilen in einer Stunde beträgt. Wer<lb/>
von uns hat aber von die&#x017F;er Ge&#x017F;chwindigkeit, mit welcher wir alle<lb/>
täglich um den Mittelpunkt der Erde fahren &#x017F;ollen, auch nur das<lb/>
Gering&#x017F;te bemerkt? Wer wird al&#x017F;o auch für die&#x017F;e zweite Hypothe&#x017F;e<lb/>
&#x017F;timmen und dafür nicht gleich auf den er&#x017F;ten Blick die andere<lb/>
für die unendlich wahr&#x017F;cheinlichere, für die allein wahre erklären.</p><lb/>
          <p>Auf den er&#x017F;ten Blick allerdings. &#x2014; Allein die Sache i&#x017F;t doch<lb/>
wohl auch eines zweiten Blickes und überhaupt einer näheren Be-<lb/>
trachtung werth.</p><lb/>
          <p>Was zuer&#x017F;t die&#x017F;e Ge&#x017F;chwindigkeit der Erde betrifft, &#x017F;o werden<lb/>
wir bald mit noch viel größeren Ge&#x017F;chwindigkeiten in der Natur<lb/>
bekannt werden, gegen welche die&#x017F;e, &#x017F;o groß &#x017F;ie auch Manchem er-<lb/>
&#x017F;cheinen mag, beinahe gänzlich ver&#x017F;chwindet. Die&#x017F;e Ge&#x017F;chwindig-<lb/>
keit der Erde i&#x017F;t eben nicht viel größer, als die des Schalles, der<lb/>
nach den neue&#x017F;ten Ver&#x017F;uchen in einer Minute 2,<hi rendition="#sub">724</hi> Meilen zu-<lb/>
rücklegt, während ein Punkt des Aequators der Erde in die&#x017F;er<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[62/0074] Tägliche Bewegung der Erde. um den feſten Himmel, und ſo wie dort die ſichtbaren Sterne von dem feſten öſtlichen Horizonte ſich entfernen oder höher ſteigen und dem weſtlichen ſich nähern, ſo entfernt ſich hier der bewegliche öſt- liche Horizont von ſeinen Sternen, die daher auch zu ſteigen ſchei- nen werden, während ſich der weſtliche Horizont den auf der Weſtſeite liegenden Sternen nähert, und ſie dadurch ihrem Unter- gange immer näher bringt. Beide Hypotheſen ſtellen alſo die Erſcheinung, die dadurch erklärt werden ſoll, gleich gut und vollſtändig dar, und ſo lange es bloß um dieſe Darſtellung der äußeren Erſcheinung zu thun iſt, ſo hängt auch die Wahl zwiſchen beiden bloß von unſerer Willkür ab, da keine derſelben einen Vorzug vor der andern hat, und nichts in ihnen ſelbſt liegt, was uns zu der Annahme der einen oder der andern vorzugsweiſe beſtimmen könnte. §. 16. (Innere Wahrſcheinlichkeit der Rotation der Erde. I. Aus der Geſchwindigkeit.) Allein verhält es ſich ebenſo mit den inneren Wahrſcheinlichkeiten dieſer beiden Vorausſetzungen? — Dort bewegt ſich der Himmel, während wir in gemächlicher Ruhe ſtille ſitzend zuſehen: hier aber laſſen wir den Himmel ruhen, während wir mit unſerer Kugel uns um uns ſelbſt drehen, und zwar mit einer in der That ſehr großen Geſchwindigkeit, die unter dem Aequator volle 225 Meilen in einer Stunde beträgt. Wer von uns hat aber von dieſer Geſchwindigkeit, mit welcher wir alle täglich um den Mittelpunkt der Erde fahren ſollen, auch nur das Geringſte bemerkt? Wer wird alſo auch für dieſe zweite Hypotheſe ſtimmen und dafür nicht gleich auf den erſten Blick die andere für die unendlich wahrſcheinlichere, für die allein wahre erklären. Auf den erſten Blick allerdings. — Allein die Sache iſt doch wohl auch eines zweiten Blickes und überhaupt einer näheren Be- trachtung werth. Was zuerſt dieſe Geſchwindigkeit der Erde betrifft, ſo werden wir bald mit noch viel größeren Geſchwindigkeiten in der Natur bekannt werden, gegen welche dieſe, ſo groß ſie auch Manchem er- ſcheinen mag, beinahe gänzlich verſchwindet. Dieſe Geſchwindig- keit der Erde iſt eben nicht viel größer, als die des Schalles, der nach den neueſten Verſuchen in einer Minute 2,724 Meilen zu- rücklegt, während ein Punkt des Aequators der Erde in dieſer

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/74
Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/74>, abgerufen am 20.04.2024.