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Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834.

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Jährliche Bewegung der Sonne.
sich unter einem rechten Winkel in dem Punkte d durchschneidende
Linien, und nehme von diesem Punkte d auf der einen dieser
Linien mittelst des Maßstabs z. B. die Länge db von 5 Zoll,
und auf der andern die Länge dc von 10 Zoll, und vereinige
dann die beiden Endpunkte b und c dieser Linie durch die gerade
bc, so erhält man ein anderes Dreieck bcd, welches dem gegebe-
nen Dreiecke des Gnomons vollkommen ähnlich ist, d. h. welches
dieselben Winkel mit jenem hat, wenn gleich die Seiten der beiden
Dreiecke sehr von einander verschieden sind. In diesem kleinern
Dreiecke bcd kann man aber den Winkel an b mittelst des be-
kannten Winkelmessers (Transporteur's) bestimmen, und man
wird ihn sehr nahe gleich 63° 26' finden, und ganz eben so groß
wird also auch der Winkel B in dem großen Dreiecke BCD des
Gnomons seyn. Es ist für sich klar, daß man diesen Winkel
desto genauer finden wird, je größer man das kleinere Dreieck
macht, je besser der Winkelmesser gearbeitet ist, und je mehr Sorg-
falt man bei diesem Verfahren anwendet. Die oben erwähnte
trigonometrische Rechnung aber wird diese Resultate immer mit
größerer Genauigkeit geben, daher es wünschenswerth wäre, sich
damit näher bekannt zu machen, um so mehr, da sich diese Kennt-
nisse so häufig mit Nutzen anwenden, und mit einiger Aufmerk-
samkeit von jedem Leser in kurzer Zeit erwerben lassen.

Um das Vorhergehende auf eine Beobachtung mit dem Gno-
mon anzuwenden, wollen wir die allerälteste astronomische Beob-
achtung, die überhaupt auf uns gekommen ist, zu diesem Zwecke
auswählen. Der Jesuit Ganbil, der sich in der Mitte des vori-
gen Jahrhunderts lange bei der Mission in China aufgebalten
hat, berichtet uns aus einem alten chinesischen Manuscripte, daß
der Kaiser Tschu-Kong in dem Jahre 1100 vor dem Anfange
der christlichen Zeitrechnung, also zur Zeit, als Codrus in Athen
und David in Judäa lebten, die Höhe der Sonne in ihren beiden
Solstitien mit einem Gnomon beobachtet habe. Der Ort dieser
Beobachtung war die Stadt Loyang, oder, wie sie heute genannt
wird, Honan-Fu in der Provinz Honan, dem sogenannten Garten
des Reiches, dessen Hauptstadt Kai-fong-fu ist. Die Höhe seines
Gnomons betrug 8 chinesische Schuhe über seiner horizontalen
Basis, und die Länge des beobachteten Schattens war, nach der

Jährliche Bewegung der Sonne.
ſich unter einem rechten Winkel in dem Punkte d durchſchneidende
Linien, und nehme von dieſem Punkte d auf der einen dieſer
Linien mittelſt des Maßſtabs z. B. die Länge db von 5 Zoll,
und auf der andern die Länge dc von 10 Zoll, und vereinige
dann die beiden Endpunkte b und c dieſer Linie durch die gerade
bc, ſo erhält man ein anderes Dreieck bcd, welches dem gegebe-
nen Dreiecke des Gnomons vollkommen ähnlich iſt, d. h. welches
dieſelben Winkel mit jenem hat, wenn gleich die Seiten der beiden
Dreiecke ſehr von einander verſchieden ſind. In dieſem kleinern
Dreiecke bcd kann man aber den Winkel an b mittelſt des be-
kannten Winkelmeſſers (Transporteur’s) beſtimmen, und man
wird ihn ſehr nahe gleich 63° 26′ finden, und ganz eben ſo groß
wird alſo auch der Winkel B in dem großen Dreiecke BCD des
Gnomons ſeyn. Es iſt für ſich klar, daß man dieſen Winkel
deſto genauer finden wird, je größer man das kleinere Dreieck
macht, je beſſer der Winkelmeſſer gearbeitet iſt, und je mehr Sorg-
falt man bei dieſem Verfahren anwendet. Die oben erwähnte
trigonometriſche Rechnung aber wird dieſe Reſultate immer mit
größerer Genauigkeit geben, daher es wünſchenswerth wäre, ſich
damit näher bekannt zu machen, um ſo mehr, da ſich dieſe Kennt-
niſſe ſo häufig mit Nutzen anwenden, und mit einiger Aufmerk-
ſamkeit von jedem Leſer in kurzer Zeit erwerben laſſen.

Um das Vorhergehende auf eine Beobachtung mit dem Gno-
mon anzuwenden, wollen wir die allerälteſte aſtronomiſche Beob-
achtung, die überhaupt auf uns gekommen iſt, zu dieſem Zwecke
auswählen. Der Jeſuit Ganbil, der ſich in der Mitte des vori-
gen Jahrhunderts lange bei der Miſſion in China aufgebalten
hat, berichtet uns aus einem alten chineſiſchen Manuſcripte, daß
der Kaiſer Tschu-Kong in dem Jahre 1100 vor dem Anfange
der chriſtlichen Zeitrechnung, alſo zur Zeit, als Codrus in Athen
und David in Judäa lebten, die Höhe der Sonne in ihren beiden
Solſtitien mit einem Gnomon beobachtet habe. Der Ort dieſer
Beobachtung war die Stadt Loyang, oder, wie ſie heute genannt
wird, Honan-Fu in der Provinz Honan, dem ſogenannten Garten
des Reiches, deſſen Hauptſtadt Kai-fong-fu iſt. Die Höhe ſeines
Gnomons betrug 8 chineſiſche Schuhe über ſeiner horizontalen
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[111/0123] Jährliche Bewegung der Sonne. ſich unter einem rechten Winkel in dem Punkte d durchſchneidende Linien, und nehme von dieſem Punkte d auf der einen dieſer Linien mittelſt des Maßſtabs z. B. die Länge db von 5 Zoll, und auf der andern die Länge dc von 10 Zoll, und vereinige dann die beiden Endpunkte b und c dieſer Linie durch die gerade bc, ſo erhält man ein anderes Dreieck bcd, welches dem gegebe- nen Dreiecke des Gnomons vollkommen ähnlich iſt, d. h. welches dieſelben Winkel mit jenem hat, wenn gleich die Seiten der beiden Dreiecke ſehr von einander verſchieden ſind. In dieſem kleinern Dreiecke bcd kann man aber den Winkel an b mittelſt des be- kannten Winkelmeſſers (Transporteur’s) beſtimmen, und man wird ihn ſehr nahe gleich 63° 26′ finden, und ganz eben ſo groß wird alſo auch der Winkel B in dem großen Dreiecke BCD des Gnomons ſeyn. Es iſt für ſich klar, daß man dieſen Winkel deſto genauer finden wird, je größer man das kleinere Dreieck macht, je beſſer der Winkelmeſſer gearbeitet iſt, und je mehr Sorg- falt man bei dieſem Verfahren anwendet. Die oben erwähnte trigonometriſche Rechnung aber wird dieſe Reſultate immer mit größerer Genauigkeit geben, daher es wünſchenswerth wäre, ſich damit näher bekannt zu machen, um ſo mehr, da ſich dieſe Kennt- niſſe ſo häufig mit Nutzen anwenden, und mit einiger Aufmerk- ſamkeit von jedem Leſer in kurzer Zeit erwerben laſſen. Um das Vorhergehende auf eine Beobachtung mit dem Gno- mon anzuwenden, wollen wir die allerälteſte aſtronomiſche Beob- achtung, die überhaupt auf uns gekommen iſt, zu dieſem Zwecke auswählen. Der Jeſuit Ganbil, der ſich in der Mitte des vori- gen Jahrhunderts lange bei der Miſſion in China aufgebalten hat, berichtet uns aus einem alten chineſiſchen Manuſcripte, daß der Kaiſer Tschu-Kong in dem Jahre 1100 vor dem Anfange der chriſtlichen Zeitrechnung, alſo zur Zeit, als Codrus in Athen und David in Judäa lebten, die Höhe der Sonne in ihren beiden Solſtitien mit einem Gnomon beobachtet habe. Der Ort dieſer Beobachtung war die Stadt Loyang, oder, wie ſie heute genannt wird, Honan-Fu in der Provinz Honan, dem ſogenannten Garten des Reiches, deſſen Hauptſtadt Kai-fong-fu iſt. Die Höhe ſeines Gnomons betrug 8 chineſiſche Schuhe über ſeiner horizontalen Baſis, und die Länge des beobachteten Schattens war, nach der

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Zitationshilfe: Littrow, Joseph Johann von: Die Wunder des Himmels, oder gemeinfaßliche Darstellung des Weltsystems. Bd. 1. Stuttgart, 1834, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/littrow_weltsystem01_1834/123>, abgerufen am 24.04.2024.