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Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898.

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I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
weit die Küsten Afrikas in Frage stehen, die Mitteilung an
die übrigen Mächte zur Rechtswirksamkeit des Erwerbs
vorgeschrieben.

5. Die mehrfach sich findende Vereinbarung einer "neutralen
Zone"
(oben § 9 II 1) kann auch die gegenseitige Verpflichtung der Ver-
tragsstaaten bedeuten, in dem umschriebenen Gebiete keine Erwerbungen
zu machen.

Insoweit bildet die "neutrale Zone" ein Gegenstück zur
Interessensphäre.

R. G. I 169.

IV.

Eine verschleierte Form des derivativen Erwerbs ist die Uber-
nahme eines Gebietes "zur Besetzung und Verwaltung" unter nomi-
neller Fortdauer der bisherigen Staatsgewalt (auch, aber sehr unglück-
lich, als "Condominium inegal" bezeichnet).

Hierher gehört:

1. Die Besetzung von Bosnien und der Herzogowina durch
Österreich 1878.
Sie beruht auf dem Vertrag zwischen Österreich
und Russland zu Reichstadt von 1877, auf Artikel 25 des Berliner
Vertrags von 1878, und auf dem Vertrag zwischen Österreich und
der Türkei vom 21. April 1879. Artikel 25 des Berliner Vertrags
bestimmt. "Die Provinzen Bosnien und Herzogowina werden von
Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die öster-
reichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, die Ver-
waltung des Sandjaks von Novibazar zu übernehmen ....., so
wird die ottomanische Verwaltung daselbst fortgeführt werden.
Um jedoch sowohl den Bestand der neuen politischen Ordnung,
als auch die Freiheit und die Sicherheit der Verkehrswege zu
wahren, behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen
Umfange dieses Teils des alten Vilajets von Bosnien Garnisonen
zu halten und Militär- und Handelsstrassen zu besitzen." -- Die
Souveränität der Türkei ist ausdrücklich vorbehalten; aber Öster-
reich-Ungarn übt die uneingeschränkte Gebietshoheit aus, und die
Mächte haben dies durch den Verzicht auf die Kapitulationen an-
erkannt. Jenem Vorbehalt kann mithin rechtliche Bedeutung nicht
beigemessen werden.


I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung.
weit die Küsten Afrikas in Frage stehen, die Mitteilung an
die übrigen Mächte zur Rechtswirksamkeit des Erwerbs
vorgeschrieben.

5. Die mehrfach sich findende Vereinbarung einer „neutralen
Zone“
(oben § 9 II 1) kann auch die gegenseitige Verpflichtung der Ver-
tragsstaaten bedeuten, in dem umschriebenen Gebiete keine Erwerbungen
zu machen.

Insoweit bildet die „neutrale Zone“ ein Gegenstück zur
Interessensphäre.

R. G. I 169.

IV.

Eine verschleierte Form des derivativen Erwerbs ist die Uber-
nahme eines Gebietes „zur Besetzung und Verwaltung“ unter nomi-
neller Fortdauer der bisherigen Staatsgewalt (auch, aber sehr unglück-
lich, als „Condominium inégal“ bezeichnet).

Hierher gehört:

1. Die Besetzung von Bosnien und der Herzogowina durch
Österreich 1878.
Sie beruht auf dem Vertrag zwischen Österreich
und Ruſsland zu Reichstadt von 1877, auf Artikel 25 des Berliner
Vertrags von 1878, und auf dem Vertrag zwischen Österreich und
der Türkei vom 21. April 1879. Artikel 25 des Berliner Vertrags
bestimmt. „Die Provinzen Bosnien und Herzogowina werden von
Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die öster-
reichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, die Ver-
waltung des Sandjaks von Novibazar zu übernehmen ....., so
wird die ottomanische Verwaltung daselbst fortgeführt werden.
Um jedoch sowohl den Bestand der neuen politischen Ordnung,
als auch die Freiheit und die Sicherheit der Verkehrswege zu
wahren, behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen
Umfange dieses Teils des alten Vilajets von Bosnien Garnisonen
zu halten und Militär- und Handelsstraſsen zu besitzen.“ — Die
Souveränität der Türkei ist ausdrücklich vorbehalten; aber Öster-
reich-Ungarn übt die uneingeschränkte Gebietshoheit aus, und die
Mächte haben dies durch den Verzicht auf die Kapitulationen an-
erkannt. Jenem Vorbehalt kann mithin rechtliche Bedeutung nicht
beigemessen werden.


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[60/0082] I. Buch. Die Rechtssubjekte und ihre allgem. Rechtsstellung. weit die Küsten Afrikas in Frage stehen, die Mitteilung an die übrigen Mächte zur Rechtswirksamkeit des Erwerbs vorgeschrieben. 5. Die mehrfach sich findende Vereinbarung einer „neutralen Zone“ (oben § 9 II 1) kann auch die gegenseitige Verpflichtung der Ver- tragsstaaten bedeuten, in dem umschriebenen Gebiete keine Erwerbungen zu machen. Insoweit bildet die „neutrale Zone“ ein Gegenstück zur Interessensphäre. R. G. I 169. IV. Eine verschleierte Form des derivativen Erwerbs ist die Uber- nahme eines Gebietes „zur Besetzung und Verwaltung“ unter nomi- neller Fortdauer der bisherigen Staatsgewalt (auch, aber sehr unglück- lich, als „Condominium inégal“ bezeichnet). Hierher gehört: 1. Die Besetzung von Bosnien und der Herzogowina durch Österreich 1878. Sie beruht auf dem Vertrag zwischen Österreich und Ruſsland zu Reichstadt von 1877, auf Artikel 25 des Berliner Vertrags von 1878, und auf dem Vertrag zwischen Österreich und der Türkei vom 21. April 1879. Artikel 25 des Berliner Vertrags bestimmt. „Die Provinzen Bosnien und Herzogowina werden von Österreich-Ungarn besetzt und verwaltet werden. Da die öster- reichisch-ungarische Regierung nicht den Wunsch hegt, die Ver- waltung des Sandjaks von Novibazar zu übernehmen ....., so wird die ottomanische Verwaltung daselbst fortgeführt werden. Um jedoch sowohl den Bestand der neuen politischen Ordnung, als auch die Freiheit und die Sicherheit der Verkehrswege zu wahren, behält sich Österreich-Ungarn das Recht vor, im ganzen Umfange dieses Teils des alten Vilajets von Bosnien Garnisonen zu halten und Militär- und Handelsstraſsen zu besitzen.“ — Die Souveränität der Türkei ist ausdrücklich vorbehalten; aber Öster- reich-Ungarn übt die uneingeschränkte Gebietshoheit aus, und die Mächte haben dies durch den Verzicht auf die Kapitulationen an- erkannt. Jenem Vorbehalt kann mithin rechtliche Bedeutung nicht beigemessen werden.

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Zitationshilfe: Liszt, Franz von: Das Völkerrecht. Berlin, 1898, S. 60. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/liszt_voelkerrecht_1898/82>, abgerufen am 19.04.2024.